Moab

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Geschickt nutzte Dairos die Schatten und Vorbauten der Häuser aus. Als sie den Ortsrand erreichten, stieg feiner Morgennebel auf und gab ihnen zusätzliche Deckung.

Der Ordensritter verhielt an einer Ecke und suchte die Umgebung nach verborgenen Schützen ab. Er schwieg beharrlich, war nicht bereit, zu antworten. Sie klopfte auf seine Rüstung.»Warum?«

Dairos von Ordon seufzte auf.

»Ihr habt, obwohl wir euch angeklagt hatten und hinrichten wollten, alle gerettet. Dabei spielte es keine Rolle, ob es einer vom Orden war oder ein kleines Kind. Ihr hättet euer Leben bereitwillig für jeden von uns gegeben. Ich habe gesehen, wie ihr fast dabei gestorben wäret.
Nein, ich kann nichts Böses in euch sehen, Cyriana. Und ich kann den Auftrag meines Ordens nicht ausführen. Das Licht des Ordens sollte rein sein ... Doch den Glanz sehe ich nicht mehr. Er ist erloschen.«

Sie sah in seine Augen und glaubte noch etwas anderes darin zu sehen. Eine Schuld? Gerade als sie sich abwenden wollte, legte der Ordensritter seine Hand sanft auf ihre linke Schulter, zog sie aber sogleich zurück, als er merkte, wie sie sich versteifte.

»Nun muss ich auch eine Wahrheit von euch einfordern. Bei eurer Ehre, Cyriana, bitte belügt mich nicht.«

Die Druidin zögerte kurz, hatte Angst vor der Frage. Es gab Wahrheiten, die nicht gesagt werden durften. Doch in seinen Augen las sie ab, wie wichtig die Antwort für ihn war. Ihr Nicken fiel dennoch zögerlich aus.

»In der Schenke sprach Ignatus davon, dass ihr euren Tanten Zaranna und Ultiane ähnelt. Er vermutete auch, dass ihr alle dieselbe Person seid. Ist das wahr?«

Zurolon sprang geschmeidig auf Cyrianas Schulter, flüsterte in ihr Ohr, nichts zu sagen, doch sie spürte, dass die Frage für den jungen Ordensritter viel persönlicher war. Sie fällte eine Entscheidung.

»Ich bin Cyriana ... und lebte einst auch als Ultiane und Zaranna hier in Granitfurt. Ich gebe zu, ich bin etwas älter, als ich aussehe.«

Einen Moment lang herrschte zwischen ihr und dem Ritter ein unangenehmes Schweigen. Schließlich räusperte er sich.

»Tatsächlich habt ihr euch gut gehalten.«

Ein Lächeln glitt über Cyrianas Züge. »Danke.«

Ganz in der Nähe hörten sie Ordensgardisten die Gasse entlanglaufen. Das Hier und Jetzt hatte sie wieder eingeholt.

»Du musst die Armschienen ablegen«, zischelte die Drachenschlange.»Du weißt, dass ich das nicht kann«, flüsterte Cyriana und hoffte, dass Dairos, der absichernd losmarschierte, nicht mithörte.»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du daran glauben musst. Außerdem erfordert das, was du jetzt vorhast, nicht auch eine Magie, die du nicht besitzt?«

Cyriana ignorierte Zurolon. Durch den morgendlichen Dunst vor Blicken geschützt erreichten sie ein freies Feld.

»Ist der Nebel euer Zauber?«, wollte Dairos wissen. Cyriana schüttelte den Kopf. »Nein, ein wenig Dunst mag ich wohl erzeugen können, aber dies ist nicht mein Werk.«

»Und nun?«, wollte Dairos wissen. Er spähte hinüber zum Ortsrand Granitfurts.»Nun muss ich etwas tun, was ich einst gelobt habe, zu vergessen.«

Sie krempelte ihre Bluse an den Armen hoch und entblößte die silbernen Armschienen. »Ich muss es wagen.«

Ihre Armbänder leuchteten rot auf. Ein Schwächeanfall zwang sie in die Knie. In ihrem Inneren explodierte etwas, fraß sich schmerzhaft in ihren Körper. Der Ordensritter wollte ihr wieder aufhelfen, doch ein Blick in ihre Augen ließ ihn innehalten.

»Oh, oh«, gluckste Zurolon. »Ich wusste es.«

Die Armschienen wurden glutrot, als Cyriana ihre Magie spielen ließ, eine Magie, die sie schon lange nicht mehr gewagt hatte einzusetzen. Dairos stolperte einen Schritt zurück, als er die Macht um sie herum toben sah.

Aus Granitfurt näherten sich Silhouetten im Dunst. Schwerter blitzten im Nebel. Ignatus' Männer hatten sie entdeckt. Die glühenden Armschienen waren wie ein Leuchtturm in mondlosen Nächten.

Menschen strömten aus einer anderen Richtung heran, stellten sich den Ordensleuten in den Weg. Cyriana glaubte die wütende Stimme Torcaans herauszuhören, der die Gardisten aufforderte, sie in Ruhe zu lassen.

Befehle ertönten und aus dem Dunst schälte sich, siegessicher lächelnd, der Wissenswahrer. Mit herrischem Armwedeln scheuchte er die Bewohner zur Seite. Dabei war er sich nicht zu schade, Waffengewalt anzudrohen. Nur Torcaan blieb standhaft. Der Bürgermeister zog tatsächlich sein Schwert und stellte sich den Ordensleuten in den Weg. Diese verhielten kurz und umgingen dann den früheren Söldner.

»Ruf ihn«, forderte Zurolon sie auf. Die Drachenschlange machte sich bereit, den ersten Gardisten anzufallen, der sie erreichte. Noch waren die Männer außerhalb seiner Reichweite, etwa knapp hundert Fuß entfernt.

»Er wird nicht rechtzeitig kommen, mein Freund«, keuchte sie unter Schmerzen.»Er ist doch schon längst unterwegs.«

»Ignatus, haltet ein. Cyriana ist kein Feind«, hörte sie den jungen Ordensritter rufen, der nun sogar sein Schwert zog und sich dem Wissenswahrer und dessen Ordensgardisten in den Weg stellte. Die Männer des Ordens hielten inne. Sie waren sich nicht sicher, wessen Befehlen sie zu gehorchen hatten. Die drei überlebenden Arkebusiere hatten jedoch nicht dieses Problem. Sie stammten aus der Burg und waren somit Ignatus direkt unterstellt.

Seelenruhig stellten sie die Arkebusen auf und luden die Waffen.

Cyriana schrie laut auf, ein gellender, durchdringender Laut, der sekundenlang in der Luft nachhallte.

Alle um sie herum hielten inne. Der unheimliche Schrei ließ ihnen die Haare zu Berge stehen und das Blut gefrieren. Einige Gardisten wichen zurück.

Erneut stieß sie einen furchteinflößenden Klageton aus, der zitternd in der Luft vibrierte. Alle anderen Laute um sie herum verstummten. Der Ruf hatte nichts Menschliches mehr an sich.Dairos drehte sich zu ihr um und starrte sie fassungslos an. »Was ist das?«

Anstatt einer Antwort schickte sie erneut einen heulenden Aufschrei in das diffuse Licht des morgendlichen Dunstes. Die Armschienen pulsierten nervös.

Minutenlang geschah nichts. Die Natur hielt den Atem an, die Arkebusiere bekamen kein freies Schussfeld, da sich Dairos in den Weg gestellt hatte und die restlichen Ordensgardisten standen nur unentschlossen herum.

Aus dem Nebel, vom Schattenwald kommend, erklangen dumpfe Schritte. Die scharfen Augen der Arkebusiere sahen das Wesen als erstes und wichen zurück, ließen ihre aufgestellten Musketen einfach fallen.

Eine Drachenschlange, Ebenbild Zurolons, nur viel größer, schälte sich aus dem Nebel. Ein Koloss, mehr als doppelt so groß wie ein Basilisk schob sich auf das Feld.

»Ein Moab!«, schrie Ignatus. Er lief auf die Arkebusiere zu und forderte sie auf, die Waffen auf die große Drachenschlange zu richten.

»Helft mir auf, Dairos«, bat sie den jungen Ordensritter, der sichtbar zögerte. »Bitte vertraut jetzt mir.«

Dairos gab sich einen Ruck, schlang Cyrianas Arm über seine Schulter und brachte sie zu der großen Drachenschlange. Diese beäugte die Ordensgardisten und Arkebusiere neugierig aber nicht feindlich. Moabs waren freundliche Wesen.

Fast mühelos stemmte der Ordensritter sie auf den Rücken der Drachenschlange, die aufgerichtet ihn um das Doppelte überragte. Der Kopf ähnelte dem einer Schlange. Auf dem Rücken des Wesens hätten gut fünf Cyrianas Platz gefunden. Sie legte ihre Hände in inniger Umarmung um den Hals der großen Kreatur. Der Moab stieß ein leises Schnurren aus.Zurolon sprang der Druidin nach und hakte sich bei ihr ein.

Der gewaltige Echsenkoloss stand auf zwei stämmigen Beinen. Seine beiden Vorderbeine mit den langen, messerscharfen Krallen, hingen in der Luft. Sein kluger Blick streifte über die versammelten Menschen.

»Sie reitet einen Moab?«, stieß einer der Ordensleute aus und sein Schwert fiel aus seinen kraftlosen Armen in die Wiese.

Unterdessen hatten die Arkebusiere ihren Mut wiedergefunden und richteten ihre Waffen auf die große Echse aus.

»Wollt ihr mich treffen? Einen Ordensritter!«, fauchte Dairos und stellte sich erneut in das Schussfeld der Musketen.

Sie flüsterte dem Moab zu, in den Wald zu flüchten. Sogleich schnellte die gewaltige Kreatur herum und verschwand mit schnellen Schritten im Nebel.

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt