Kapitel 28 - Bitte, bleib.

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Olivia

Ohne hingesehen zu haben, wusste ich wer gerade das Behandlungszimmer betreten hatte. Das Zimmer, in welchem ich schon seit was weiß ich, wie vielen Tagen lag. Mein Herz fing bei seiner Anwesenheit sofort an schneller zu schlagen und ich hatte Angst, es würde sich jeden Moment überschlagen oder mir sogar aus der Brust springen. Ich konnte seinen stechenden Blick auf mir spüren, welcher meine Haut zu verbrennen schien. Dabei sah er mich seit seinem Eintreten unentwegt an und schien eine Reaktion von mir zu erwarten, welche ich ihm jedoch nicht geben wollte oder eher konnte. Ich war nicht mal in der Lage darauf zu reagieren. Im Gegenteil. Ich sank tiefer in die Matratze, verkroch mich im Bett und traute mich nicht meinen Blick zu heben. Stattdessen sah ich aus dem Fenster oder auf meine Finger, welche mit dem Saum der Bettdecke spielten. Sein Blick war immer noch auf mich gerichtet, obwohl er gerade Atlas ansprach. „Wie lange ist sie schon wach?" Wäre ich nicht immer noch von seiner Präsenz eingenommen, hätte ich ihm wahrscheinlich das ein oder andere Kommentar an den Kopf geworfen. Immerhin sprach er von mir, in der dritten Person. Als wäre ich nicht anwesend, obwohl ich gerade mehr als lebendig, so zu mindestens Atlas, vor ihm saß. „Noch nicht sehr lang. Vielleicht zehn Minuten." Der Doc zuckte mit den Schultern während er irgendwas auf seinem Klemmbrett notierte und zwischen mir und diesem .. Typen hin und her sah. Um ehrlich zu sein, wusste ich gar nicht, wie ich ihn nennen sollte.

„Ich glaube, ich lass euch mal lieber allein. Ihr habt bestimmt einiges zu besprechen." Ich sah ihn geschockt an, während er bereits auf dem Weg zur Tür war. Er konnte mich doch jetzt nicht allein lassen. Und schon gar nicht mit, mit, mit ihm. Ich meine, ich wusste immer noch nicht, was passiert war und ich bezweifle, dass er gute Absichten hatte und sich einfach nur mit mir unterhalten wollte. Er strahlte sowohl eine innere Ruhe als auch Gefahr aus, welche mein Herz wieder schneller schlagen ließ als die Tür zuklappte. Ich zuckte kurz zusammen, ehe ich meinen Blick wieder auf die Bettdecke richtete. Während ich also seinen Blick mied, konnte er es anscheinend nicht lassen mich ununterbrochen und offensichtlich anzustarren. So als hätte er mich zum ersten Mal gesehen oder als würde er in meine Seele schauen wollen. Indessen war ich voll auf den Stoff der Bettdecke konzentriert und betrachtete jedes noch so kleine Detail, um mich abzulenken. In der gleichen Zeit zog er sich einen Stuhl heran, welchen er an das Ende meines Bettes positionierte, um sich drauf zu setzten. Sein Blick war immer noch auf mich gerichtet, als er sich räusperte und seine Stimme den Raum erfüllte. „Wie geht es dir." Seine Aussage war monoton und glich mehr einem Befehl als einer gut gemeinten Frage. Und obwohl ich im Zwiespalt war, ob ich ihm antworten sollte, brachte ich ein klägliches „Gut" heraus.

Er nickte und stützte seine Unterarme auf dem Bettpfosten ab. Er schien zu überlegen was er sagen sollte. „Weißt du .. was passiert ist?" Seine Stimmfarbe klang jetzt sanfter, nicht mehr herrisch und dominant. Ein wenig ruhiger vielleicht sogar mitfühlend. Aber als ich wieder über seine gestellte Frage nachdachte, musste ich erst einmal mich selbst fragen. Wusste ich denn, was passiert war? Nicht wirklich. Ich kann mich kaum noch an die vergangenen Tage erinnen, geschweige denn an den Tag des Unfalls. Also schüttelte ich den Kopf, nickte aber auch ein wenig, da mir Atlas ja bereits ein paar Details genannt hatte. „Ich bin gestürzt und habe mir den Kopf angeschlagen." Gab ich also kurz und bündig von mir. Was ihm ein kleines Knurren entlockte. Ich kniff augenblicklich die Augen zusammen, um zu vermeiden, dass ich aufsah und ihm in die Augen blickte. „Wenn es nur das wäre." Gab er leicht bissig von sich, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. Er schnaufte leicht und schien einen Seufzer loszulassen, ehe er die nächste Frage stellte. „An was kannst du dich noch erinnern?" Ich beendete das Spiel mit meinen Fingern und schien wie erstarrt. Ja, an was konnte ich mich eigentlich noch erinnern? Ich wusste, wer da gerade vor mir saß, obwohl mir sein Name nicht einfallen wollte. Ich wusste auch, dass ich ihn nicht sonderlich mochte, obwohl sich da mein Körper und mein Verstand nicht wirklich einig waren. Ich wusste auch, dass er ein Werwolf war. Das er gefährlich war und ich mich vor ihm in Acht nehmen sollte aber wirklich mehr wollte mir mein Gedächtnis nicht offenbaren.

Es schien als wäre der Rest an Informationen hinter einer nebligen Wand versteckt, welche ich nicht durchdringen konnte. Ich wusste nicht, ob das nun gut oder schlecht war. Vielleicht wollte mir mein Gedächtnis nur einen einfachen Streich spielen oder es schützte mich vor Informationen, welche meine Sicht auf die Dinge stark beeinflussen würden oder sogar mein Dasein verändern würden. So oder so wusste ich nicht, wie ich diese Frage beantworten sollte. Ja, ich konnte mich an Dinge erinnern, aber ich konnte nicht sagen, was davon von Bedeutung war oder eben nicht. Ich konnte mir auch nicht erklären, wie ich hier gelandet war und vor allem warum. Ich wusste auch nicht, wie lange ich schon hier war und die eigentlich entscheidendste Lücke in meinem Gedächtnis, konnte ich auch nicht füllen. Was verdammt war an diesem Tag und vor diesem Unfall passiert? Doch weiter darüber nachdenken konnte ich nicht, da er mich in meinem Gedankengang unterbrach. „Könntest du mich wenigstens dabei ansehen, wenn ich mit dir rede?" Seine Stimme klang liebevoll, besorgt fast schon flehend. Als wolle er meinen Blick sehen, um sich sicher zu gehen, dass es mir gut ging, dass ich noch lebte. Doch das tat ich. Ich saß hier, vor ihm. Ich atmete, wenn auch unregelmäßig, spielte mit meinen Fingern und mein Herz schlug mir in der linken Brust. Wieso sollte er also wollen, dass ich ihn ansah? War das ein Ding zwischen Werwölfen, welches ich nicht verstand?

Xavier

Ich ertrug es nicht. Nicht noch länger. Auch wenn mir Atlas und Xander immer wieder Mut zugesprochen hatten, erlitt ich die letzten Wochen Höllenqualen. Es fühlte sich an als würde ich bei lebendigem Leib gehäutet werden. Als würde mir das Fell meines Wolfes abgezogen werden. Als würde man mich lebendig verbrennen. Ich fühlte Schmerzen, von welchen ich nie geglaubt hätte, sie jemals ertragen zu müssen. Allein neben ihr zu sitzen, sie dort liegen zu sehen. Bewusstlos, die Schläuche an ihrem Körper, nicht sicher, ob sie jemals wieder aufwachen wird. Jedes Mal, wenn ich sie sah, wenn ich sie besuchte, zerbrach es mir das Herz. Es fühlte sich an, als würde es mir aus der Brust gerissen und in Tausend Teile zerlegt werden. Als würden sich mit jedem Mal, in dem ich sie sah und nichts tun konnte, immer mehr Nägel in dieses bohren. Ich erinnere mich noch genau an den Tag als wäre es gestern gewesen, wo ich sie gefunden hatte. Auf dem Boden liegend, mit dem Rücken zu mir gedreht. Eine Blutlache um ihren Kopf, ihre Atmung nur noch schwach, das Herz kaum hörbar. Atlas hatte mir immer wieder gesagt, dass ich nichts hätte für sie tun können und es die richtige Entscheidung war, sie hier her zu bringen. Sie erlitt eine schwere Gehirnerschütterung und zu allem Überfluss wurde bei einem CT eine Hirnblutung festgestellt, welche umgehend operativ behandelt werden musste. Atlas hatte gemeint, es wäre nur Epidural gewesen und aufgrund der schnellen Behandlung stehen die Heilungschancen gut.

Dennoch hatte er sie nach dem Eingriff ins Koma versetzten müssen. Zu geschwächt war ihr Körper und die Verletzungen zu tief. Es zerriss mir das Herz sie in diesem Bett liegen zu sehen. Nicht zu wissen, ob es ihr gut geht, ob sie jemals wieder aufwachen wird, ob sie mich jemals wieder mit diesen blauen Augen ansehen wird. Ich hasste mich selbst dafür und machte mich für all das verantwortlich, was ihr zugestoßen war. Wäre ich nicht so besitzergreifend gewesen, hätte ich sie weniger bedrängt, meine Identität verborgen, ihr ihren Freiraum gelassen, wäre all das nie passiert. Dann würde sie hier nicht bewusstlos liegen. Dann würde sie mit mir sprechend können und mich wahrscheinlich weiter beleidigen, mir bissige Kommentare an den Kopf werfen. Dann würde sie ihre Hände an meine Brust legen und mich von sich stoßen und dennoch würde ich all das genießen. Denn es würde mir zeigen, dass ich ihr nicht egal wäre, dass sie sich mit mir befasst, wohl oder übel. Dass ich ein Teil ihres Lebens wäre. Doch jetzt saß ich wieder neben ihr. Sah in ihr wundervolles Gesicht, sah die vollen, rosigen Lippen und ihre kleine Stupsnase. Bis jetzt hatte sie sich geweigert mich anzusehen. Warum weiß ich nicht. War es aus Angst, aus Scham? Ich konnte es mir nicht erklären, dennoch war das nicht das einzige Problem, auch wenn es zu den kleineren zählte. Wir wussten nicht, welche Auswirkungen dieser Sturz auf sie hatte und obwohl die ersten Tests keine körperlichen Beeinträchtigungen oder sogar Lähmungen feststellen konnten, änderte das nichts an ihrem Gedächtnisverlust.

Natürlich war ich überglücklich, dass es ihr soweit körperlich gut ging, dennoch machte ich mir sowohl Gedanken als auch Sorgen, welche Auswirkungen das alles auf uns haben wird. Weiß sie überhaupt, wer ich bin? Was ich für sie bin? Kann sie sich an unsere erste Begegnung erinnern? An die Begegnungen danach? Dass ich ein Werwolf bin? Und hasst sie mich immer noch? Mein Gehirn schien einem Meer aus Fragen zu gleichen, welche noch lange unbeantwortet bleiben werden. Denn wenn ich sie so auf dem Bett sitzen sehe, mit ihren Fingern spielend, meinen Blick meidend, sieht es nicht sonderlich gut für mich aus. Ich schnaufte also mehr erschöpft als frustriert aus, ehe ich die Stille unterbrach. „Könntest du mich wenigstens dabei ansehen, wenn ich mit dir rede?" Ich lehnte an ihrem Bettende und sah sie flehend, fast schon bettelnd an. Sowohl mein Wolf als auch ich brauchten das jetzt. Ich, weil ich mich davon überzeugen wollte, dass es ihr gut ging. Dass sie immer noch die Alte war, welche mich mit diesem unergründlichen Blick ansah und mein Wolf, weil sie nun mal unsere Gefährtin war und er sich nur so beruhigen konnte. Doch entgegen meinen Erwartungen, ließ sie ihren Kopf gesenkt, sah mir nicht in die Augen und ließ mich nicht diese strahlend blauen Kristalle sehen. Mein Wolf knurrte, doch ich wusste, wann ich verloren hatte. Ich stützte mich also an dem Bett ab, ehe ich mich von dem Stuhl erhob. „Ich .." Fing ich an, doch wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich meine, was ich überhaupt hätte sagen können.

Olivia

Er stand mit dem Rücken zu mir und machte vor der Tür halt. „Falls du etwas brauchst, ruf einfach oder drück den Knopf an deinem Bett. Essen gibt es drei Mal täglich. Atlas wird regelmäßig nach dir sehen und dein Werte prüfen." Nachdem er fertig war, legte er seine Hand quälend langsam auf die Klinke und drückte sie herunter. Ich wusste nicht, ob er das mit Absicht machte, in der Hoffnung ich würde ihm doch noch antworten. Doch allein diese Geste. Das gequälte Greifen nach der Klinke, die niedergeschlagene Haltung. All das löste etwas tief in meinem Inneren aus. Etwas, was danach schrie ihn nicht gehen zu lassen. Etwas, dass wollte, dass er blieb. Hier, bei mir. Also tat ich genau das, was mir diese Stimme zurief. „Warte." Meine Stimme klang leise, brüchig. Dennoch reichte es aus, um ihn in seiner Bewegung zu stoppen. Verdammt, damit hatte ich nicht gerechnet. Oder doch? Das wollte ich ja schließlich, oder nicht? Aber ich hatte nicht weitergedacht. Was soll ich denn jetzt bitte sagen? Ich suchte in meinem Kopf nach Antworten, doch mein Gehirn schien wie leergefegt. Mach etwas, sonst geht er. Hörte ich wieder diese Stimme flüstern. „Ich .. ähm.." Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte und doch schienen sich die Worte plötzlich wie von selbst zu bilden. „Wie lange bin ich schon hier?" Ich richtete meinen Blick auf ihn und wartete gespannt seine Reaktion ab. Genauso zögerlich, wie er die Türklinke hat runter drücken wollen, drehte er sich jetzt um und suchte meinen Blick. Bis er ihn fand.

Der Hass meiner Gefährtin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt