Kapitel 56 - Aufgerissene Wunden

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Xavier

Nachdem ich sie hochgehoben hatte, kontaktierte ich bereits unseren Rudelarzt, welcher einen Blick auf Olivia werfen sollte. Ich wollte sichergehen, dass es ihr gut ging. Abgesehen von ihrer momentanen physischen Verfassung, welche wohl nicht die Beste sein wird, in Anbetracht der Gefühlswelle, von der sie gerade quasi überrollt wurde. Ich frage mich, ob sie genauso gehandelt hätte, wenn sie früher von den Konsequenzen erfahren hätte. Als sie ein Mensch war, schien das noch kein Problem zu sein, doch seit sie eine Werwölfen ist, haben sich die Bedingungen verändert. Doch dafür war es jetzt bereits zu spät. Geschehen ist, was geschehen ist und keiner kann das jemals rückgängig machen. Uns bleibt also nichts anderes übrig als sich den Gegebenheiten anzupassen. Während wir also zurück Richtung Rudelhaus liefen, in dem Atlas bereits auf uns wartete, sprach ich das unvermeidliche Thema an, welches von nun an zur Realität werden wird. „Wir sollten darüber sprechen." Ich mied ihren Blick und starrte stattdessen weiter geradeaus. Doch ich brauchte sie auch gar nicht anzusehen, um ihre Reaktion zu erfahren, denn sie versteifte sich bereits bei meinen Worten, während sie sich unbehaglich bewegte. „Worüber? Was meinst du?" Natürlich würde sie das versuchen. Die Tatsache ignorieren, dass sie mich markiert hatte und sich nicht weiter damit auseinandersetzten. So wie sie immer versucht hat wegzulaufen, wird sie hier nach dem gleichen Prinzip vorgehen. Doch das Ganze hat bereits jetzt ein viel größeres Ausmaß angenommen als sie sich jemals vorstellen kann und wird.

„Olive. Du weißt, wovon ich rede. Hör auf die Tatsache zu ignorieren, dass du mich markiert hast. Wir müssen darüber sprechen." Sie schüttelte den Kopf und blickte abwesend in den Wald. „Ich wüsste nicht, was es da zu besprechen gibt. Meine Wölfin hat dich markiert, wir sind Gefährten und aneinander gebunden. Ich kann also nicht mehr weg von hier." Sie zuckte mit den Schultern. „Was gibt es da noch zu besprechen?" Ich lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Na klar. Und das ist kein Problem für dich, hier zu bleiben? Obwohl du die letzten Wochen, sogar Monate nicht genug Abstand zwischen uns bringen konntest? Erzähl keinen Scheiß, Olivia. Belüg jemand anderen aber nicht mich." Sie schnaufte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe doch eh keine andere Wahl, oder?" Ich zog eine Augenbraue hoch und richtete meinen Blick nun auf sie. „Genau das ist das Problem. Du solltest das nicht als Zwang betrachten. Du hast immer eine Wahl." Sie pfiff Luft durch ihre Lippen und räusperte sich. „Was das betrifft, ja anscheinend nicht, denn sobald ich auch nur daran denke von hier zu verschwinden, zieht sich etwas tief in mir zusammen." Ich blickte skeptisch und blieb kurz stehen. „Das ist merkwürdig." Sie riss sofort ihren Kopf herum und starrte mich an. „Wie? Ist das nicht normal?" Ich schüttelte den Kopf und nickte zeitgleich. „Bei normalen Menschen, die ein Herz besitzen, schon. Aber da du ja keins hast, ist das schon sehr eigenartig."

Nach dieser Aussage musste ich einen Schlag auf den Nacken einstecken. „Ich bin nicht herzlos! Da war nur einfach kein Platz für dich." Sie zuckte mit den Schultern und schmollte vor sich hin, dennoch wurden mein Wolf und ich aufmerksam bei ihren Worten. „War?" hakte ich also unsicher nach, ehe ich sie hoffnungsvoll anblickte. „Vielleicht empfinde ich jetzt irgendwie .. anders für dich? Ich weiß es nicht. Ich verstehe das Ganze doch auch gar nicht. Ich verstehe ja nicht einmal mehr mich selber. Es kommt mir vor, als wäre ich dauerhaft in einem Zweispalt und während ich die Mitte wählen will, ziehen mich beide Seiten jeweils zu sich." Ich nickte ihr zu und konnte mir schon vorstellen, wovon sie da sprach. Als sie mich markiert hat, haben sich nicht nur unsere Seelen, sondern auch die unserer Wölfe miteinander verbunden. Während sich ihre Werwölfin also von meinem Wolf angezogen fühlt, will ihre menschliche Seite immer noch Abstand und das, obwohl sie jetzt anders für mich empfindet, was wohl dem Gefährtenband zu verdanken ist. „Ich weiß, was du meinst oder zu mindestens so ungefähr. Für mich ist das auch nicht einfach. Aber genau deswegen sollten wir darüber reden. Denn es ist so viel mehr als >Ich kann hier nicht mehr weg< wie du es nennst." Sie sah mich aus ihren großen dunkelblauen Augen an, was mir die Knie weich werden ließ. Wie könnte ich jemals zu diesen Augen nein sagen? „Vielleicht sollten wir dann doch darüber sprechen. Ophelia ist nämlich gerade nicht so gesprächig und hat nur eine Sache im Kopf."

Sie rollte mit den Augen und wandte wieder ihren Blick von mir ab. Ich musste mir währenddessen ein Lachen verkneifen, da ich genau wusste, wovon sie sprach. „Ich kann mir schon vorstellen, woran sie denkt." Gab ich dennoch verschmitzt grinsend von mir. Für Xenon gab es seit der Markierung auch nur noch die eine Sache, weswegen er mir unaufhörlich die Ohren voll heulte und mir den Kopf abreißen wollte, dass das jetzt nicht meine oberste Priorität war. Doch es gab jetzt wichtigeres zu tun und das musste er akzeptieren. Sie schlug mir auf die Schulter und keuchte schockiert. „Du nicht auch noch!" Ich konnte ein herzhaftes Lachen nicht zurückhalten. „Keine Sorge, im Gegensatz zu unseren Wölfen kann ich Wichtige Dinge von den Unwichtigen unterscheiden." Dennoch brachte sie ein Stöhnen hervor und rieb sich die Stirn. „Dein Stöhnen macht die Sache aber nicht sonderlich einfacher. Nur so als Tipp." Ich verzog meine Lippen zu einem schiefen Grinsen, während wir das Rudelhaus bereits in der Ferne sahen. Sie presste zeitgleich die Lippen aufeinander und flüsterte vor sich hin. „Männer und ihre versauten Gedanken." Erneut erreichte ein Schmunzeln meine Lippen, doch dieses Mal beließ ich es dabei. Wir müssen es ja nicht auf die Spitze treiben und außerdem können wir schlecht in Hitze vor die Augen unseres Rudelarztes treten. Er würde mir den Kopf abreißen, wenn ich ihm das antun würde.

Olivia

Als wir endlich das Rudelhaus erreichten, atmete ich erleichtert aus. Auch wenn ich nicht wirklich viel dafür getan hatte, dass wir es hierhergeschafft haben, so war ich dennoch völlig erschöpft und wollte eigentlich nur noch schlafen. Doch auch als mir auf dem Rückweg mehrfach die Augen zugefallen sind, hatte mich Xavier immer wieder davon abgehalten einzuschlafen. Ihm schien dieses Gespräch wirklich wichtig zu sein und während ich eigentlich nur noch eine Sache im Kopf hatte, tat ich ihm wenigstens diesen Gefallen. Außerdem hatte ich gerade auch nicht wirklich die Kraft dazu, mich ihm zu widersetzten oder überhaupt mit ihm zu streiten. Xavier ließ mich letztendlich vor den Stufen des Rudelhauses herunter, was ich mit einem Knurren kommentierte. „Bis vor wenigen Sekunden war mir noch warm." Sprach ich meine Gedanken aus und sah ihn vorwurfsvoll an. Zeitleich umklammerte ich meinen Oberkörper und versuchte meiner Gänsehaut entgegenzuwirken. Doch Xavier lachte nur und öffnete die Tür, um mich in das innere zu schieben. „Komm. Es ist schon spät und ich bin sicher Atlas möchte nicht noch länger auf uns warten." Ich schüttelte nur den Kopf. „Jetzt bin ich auch noch schuld, oder was?" Fragte ich leicht verärgert und ließ mich von ihm in das Behandlungszimmer führen. „Davon hat doch gar keiner gesprochen." Erwiderte er verwirrt und gekränkt, was ich mit einem Augenrollen kommentierte. „Hat sich aber so angehört." „Ahh, da sind ja unsere Turteltauben." Ich warf dem Rudelarzt einen bösen Blick zu.

„Halt die Klappe." Ertönten Xavier und meine Stimme gleichzeitig. Doch Atlas stand nur dumm grinsend vor uns. „Ahhh, wie ich sehe hat euch das Gefährtenband bereits jetzt schon voll im Griff." Die Stille wurde durch ein helles und tiefes Knurren unterbrochen, was mich den Kopf zu Xavier reißen ließ. „Hör auf damit!" Giftete ich ihn an, da ich keine Lust hatte von nun an mit einem siamesischen Zwilling herumzulaufen, der genau das gleiche tat wie ich. „Ich mache doch gar nichts." Konterte er, was mich aufstöhnen ließ. Mein Blick schweifte zurück zum Rudelarzt, welcher immer noch grinsend vor uns stand. „Also? Was ist nun. Warum bin ich hier?" Gab ich angesäuert von mir und setzte mich auf die bereitgestellte Liege. „Warum sind wir hier." Kommentierte Xavier und sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Sag was du willst. Ich will das einfach nur schnell hinter mich bringen und dann schlafen. Ganz viel schlafen." Ich gähnte herzlich, um meine Aussage zu unterstützen. „Nun, als erstes würde ich mir gerne eure Bissmale ansehen. Soweit ich weiß, wurdest du .." Der Doc deutete auf mich. „.. schon vor einer Weile markiert." Ich nickte zögerlich, da ich nicht wusste, worauf er hinauswollte. Als er also in die Richtung meiner Schulter blickte, griff ich automatisch zu der Stelle, an der mich Xavier damals markiert hatte. Doch als ich bereits nach der kleinsten Berührung einen Schmerz spürte, zog ich die Hand schnell weg und ich zischte auf.

Ich warf einen Blick auf meine Handfläche und musste feststellen, dass diese von Blut bedeckt war. Panisch riss ich meinen Blick hoch und sah erst Xavier, dann Atlas schockiert an. „Was zum Teufel .." Sprach ich meine Gedanken aus und wartete auf eine plausible Erklärung der beiden. „Nun, da du weit vor Xavier markiert wurdest, obwohl es üblich ist, sich kurz nacheinander zu markieren, ist aufgrund der Gefährtenbindung dein Mal .. nun ja, wie soll ich es sagen? Aufgeplatzt?" Ich zuckte mit meinem linken Auge und sah ihn sowohl wütend als auch schockiert an. „Das ist ein Scherz, oder?" Er schüttelte vorsichtig den Kopf. „Das hört sich jetzt vielleicht schlimmer an, als es ist. Also bitte, beruhige dich. Du bist jetzt sehr aufgewühlt und .." Er hob beruhigend die Hände, doch ich ließ ihn nicht aussprechen. „Harmloser als es aussieht? Ich habe eine scheiß Bisswunde auf meiner Schulter, welche eigentlich verheilt sein sollte, doch stattdessen aufgerissen ist. Wie soll ich da bitte ruhig bleiben?!" Ich spürte, wie mein Blut anfing zu kochen und mich zeitgleich eine Welle von Gefühlen übermannte, welche nicht meine waren. Ich fing an hektisch zu atmen, während mir Xavier eine Hand auf die gesunde Schulter legte. „Hey, es ist alles in Ordnung. Verstanden? Es wird alles gut." Doch ich schüttelte nur panisch den Kopf. Wie soll alles gut werden, nachdem das passiert ist. Meine Herzschlag beschleunigte sich und ich bekam zunehmend weniger Luft.


„Olivia! Hey! Sie mich an! SIEH-MICH-AN." Xavier drehte mich zu sich und sah mir tief in die Augen, während sich seine Lippen bewegten. Doch in meine Ohren Drang kein Ton mehr. Alles, was ich wahrnahm, war ein lautes Rauschen. „Du musst dich jetzt beruhigen. Hast du verstanden? Olive, bitte. Einatmen. Ausatmen. Ganz langsam. Konzentrier dich nur auf meine Stimme. Einatmen. Ausatmen." Meine Gedanken spielten verrückt und ich spürte die Panik in mir hochkommen, was mich noch hektischer atmen ließ. Ich fühlte mich völlig verloren, während mir mein Herz aus der Brust zu springen schien.  Und während ich fast dabei war mein Bewusstsein zu verlieren, schien es, als würde alles plötzlich einen Sinn ergeben. Jegliches Geräusch in meiner Umgebung verstummte plötzlich. Das einzige was ich hören konnte, war der Herzschlag in meiner Brust. Sonst war es um mich herum völlig still. Ich blickte mich in dem Raum um, doch es schien, als würde die Zeit stehen bleiben. Niemand bewegte sich. Niemand sagte etwas. Alles schien wie angehalten und als ich mich plötzlich wieder auf das fokussierte, was vor mir war, verschwamm meine Umgebung im Hintergrund. Der Raum löste sich in Luft auf. Atlas stand plötzlich nicht mehr da, wo er gerade noch gestanden hatte. Die Schränkte an der Wand waren wie weggefegt, die Liege, auf der ich saß, war vom Erdboden verschluckt worden. Alles um mich herum schien bedeutungslos zu sein. Ich konnte mich nur noch auf eine einzige Sache konzentrieren. Nur auf eine Person. Das einzige, was von jetzt an und für immer von Bedeutung war.

Der Hass meiner Gefährtin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt