Xavier
Ich wollte auf sie zu gehen, sie beruhigen, in meinen Armen halten. Doch sie schien völlig geblendet und schrie mich an fernzubleiben. Xenon hingegen hatte gerade anderes vor, weswegen ich nicht wirklich kontrollieren konnte, was er tat. Daher war es nicht anders zu erwarten, dass mein Wolf weiterhin auf sie zulief und sie einkesselte. Zu meinem Glück oder Unglück, je nachdem wie man es nennen wollte, hatte ich eine echte Kämpferin als Gefährtin und als wir uns so nah waren, sodass wir den Atem des anderen spürten, stürzte sie sich auf mich. Ich spürte einen Schmerz in meinem Nacken, ehe meine Sicht verschwamm und mich eine Welle an Gefühlen traf. Wut, Hass, Zweifel, Trauer aber auch Liebe, Zuneigung und Freude. Ich versuchte mich auf das hier und jetzt zu konzentrieren, doch es war alles ein reines durcheinander. Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf, Erinnerungen aus meiner Kindheit und Bilder, welche ich nicht zuordnen konnte. Wie mich mein Vater geschlagen hatte, wie er mit mir experimentiert hatte. Die erste Begegnung mit Olivia als sie mich fast abgelehnt hätte oder als sie mich niedergestochen hatte, die Jäger auf mein Rudel gehetzt und mich verlassen hatte. Doch dann waren da auch die schönen Momente. Unser erstes Mal, wie ich sie markiert hatte, wenn sie Nähe zuließ, wie sie sich in der Nacht an mich kuschelte. Doch neben all diesen bereits bekannten Gedankengängen, waren da auch solche, welche mich sprachlos machten. Ich sah meine Gefährtin. Als sie klein war, wie sie mit ihrem Vater spielte. Wie sie glücklich war. Ich sah, wie oft sie umgezogen ist, sah den Schmerz, unter welchem sie litt als sie ihren Vater verloren hatte.
Ich konnte sehen, dass sie fast daran zerbrach. Ich spürte, wie sich der Hass gegenüber Werwölfen entwickelte. Wie sie alles über uns herausfand, wie sehr sie sich hineingekniet hatte. Es war als wäre ich sie. Ich blickte auf die Welt mit ihren Augen und verstand nun einiges besser. Unser erstes Treffen. Sie sah einen riesigen schwarzen Wolf, welcher die Zähne fletschte und dem der Speichel aus dem Maul tropfte. Unsere ersten Begegnungen in Menschenform. Wie aufdringlich ich war, wie ich sie verfolgt und bedrängt hatte. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so empfand. Doch neben all diesen Erkenntnissen, welche mich mit einem Schlag trafen, sah ich auch die Liebe, welche sie mir gegenüber empfand. Auch wenn sie immer versuchte diese zu verstecken.Doch ungeachtet dieser Tatsachen, waren wir von jetzt und heute an offiziell miteinander verpaart und ich würde immer wissen, wo sie ist und wie es ihr geht. Sie hatte mich markiert. Ob gewollt oder nicht. Sie hat mich akzeptiert. Als ihren Gefährten. Ich könnte gerade vor Stolz platzen. Aber bevor ich mir überhaupt Gedanken über das Ausmaß dieser Markierung machen konnte und unsere gemeinsame Zukunft planen konnte, riss mich ein Winseln, gefolgt von mehreren tiefen Schluchzern aus den Gedanken. Ich blickte zu meiner Gefährtin, welche weinend auf dem Boden lag. Verdammt, das hatte ich ganz aus den Augen verloren. Im Gegensatz zu mir, war sie auf das alles nicht vorbereitet. Sie wird von diesen Gefühlen und Erinnerungen überrannt worden sein.
Olivia
So etwas konnte ein einzelner Mensch nicht ertragen. Das war einfach zu viel. Zu grausam. Ich sah Xavier als er klein war. Vor meinen Augen. So als stünde er mir gegenüber, zum Greifen nah aber dennoch so weit entfernt. Ich hörte seine Schmerzensschreie. Sah, wie er gefoltert wurde. Wollte ihm helfen, doch konnte nichts tun. Ich meine, er war doch noch ein Kind. Wie konnte man ihm all das antun? Ich musste mitansehen, wie er Prügel für seinen Bruder einsteckte. Wie ihn sein Vater fast umgebracht hat. Wie er sich in sein Zimmer schleppte, wo ihn seine Mutter still und heimlich verarztete. Ich sah, wie er größer wurde, dass er irgendwann keine Schmerzen mehr empfand und einfach nur emotionslos und resigniert dasaß. Als wäre ihm all das egal. Wie konnte ein Vater das seinem Sohn, ja sogar seinen Kindern antun? Ich spürte all diese Schmerzen. Konnte jeden Schlag auf meiner Haut fühlen. Ich vernahm jedes Gefühl. All den Hass, den Zorn und die Wut, gegenüber seinem Vater. Und dann sah ich, wie er ihn getötet hatte. Wie sie miteinander kämpften. Der eine stärker als der andere, doch in Xaviers Augen brannte ein Feuer. Eine Flamme, so hell, dass sie einen blind machen konnte. Das Feuer der Hoffnung. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Alles an ihm sprach Bände. Er war bereit sein Leben zu geben, nur damit sein Rudel eine Zukunft hatte. Er war der geborene Alpha.
Und als all das vorbei war, sah ich die Leere, welche ihn erfüllte und mit der Zeit vollends einnahm. Welche sich um sein Körper legt und wie er sich zurückzog. Ich konnte sehen, wie er sich die Zeit mit diesen Wölfinnen vertrieb aber egal wie sehr sie sich auch bemühten. Er hatte immer diesen einen, leeren Blick, welcher Bände sprach. Und dann? Dann sah ich mich. Aus seiner Perspektive. Aus seinen Augen. Ich sah unsere erste Begegnung, im Wald. Wie ich nach Pflanzen suchte und plötzlich schien seine Welt nicht mehr schwarz weiß, wie zuvor. Es war als würde sie in Farben aufgehen und seine Existenz hätte endlich einen Grund. Ich nahm alle Gefühle wahr, welche er mir gegenüber empfand. Freude, Stolz, Liebe, Zuneigung und Bewunderung. Jetzt konnte ich endlich verstehen, wie er sich die ganze Zeit gefühlt hatte. Für ihn gab es nie eine andere. Er hatte sein ganzes Leben lang auf mich gewartet. Deswegen konnte er mich nie gehen lassen. Ich war seine Welt. Egal was er tat oder woran er dachte, . Ich war immer in seinem inneren präsent. Ich war seine Priorität Nummer eins. Es schien sogar als würde er von nun an, nur noch für mich leben wollen. Ich war so überwältigt und überfordert, dass ich gar nicht begriff, was gerade passiert war. Erst als Xavier in meinem Blickfeld auftauchte und mich an den Schultern packte und rüttelte, kam ich zurück in die Gegenwart und die Bilder in meinem Kopf verschwanden.
Meine verschwommene Sicht setzte sich langsam wieder in ihre einzelnen Bestandteile zusammen, sodass ich einen aufgeregten Xavier sah, welcher versuchte mit mir zu kommunizieren. Doch alles, was in meine Ohren drang war ein monotones Rauschen. „Olivia! Warum weinst du?" Doch plötzlich legte sich auch das und seine Worte drangen stück für stück in meine Wahrnehmung. „Was ist los?" Ich spürte, wie mir Tränen die Wange runter liefen. „Geht es dir gut?" Ich sah mich noch einmal in der Umgebung um, ehe sich mein Blick auf unsere Körper legte. Xavier kniete vollkommen entblößt vor mich und redete immer noch auf mich ein, während ich ebenfalls völlig nackt vor ihm an einem Baum lehnte. „Rede mit mir." Doch jetzt gerade, in diesem Moment, war mir all das völlig egal. Dieses ganze Gefühlschaos, welches mich zuvor noch vollends eingenommen hatte, fiel plötzlich in den Hintergrund. Denn genau jetzt und hier, in diesem Moment, empfand ich nur ein Gefühl, welches meinen Körper einnahm. „Es tut mir alles so leid." Reue. Ich schmiss mich ihm entgegen und legte meine Arme um seinen Hals, während ich mich so fest ich konnte an ihn krallte. „Es tut mir alles so verdammt leid. Wenn ich das gewusst hätte! Ich, ich .. ich hätte .." Ich fing wieder an zu weinen und zu schluchzten. „Du hättest was? Dich anders verhalten?" Xavier lachte leicht und ließ einen Schauer über meinen Rücken wandern. „Ich weiß nicht. Ich wusste ja nicht, dass du so .."
Xavier
„.. empfindest?" Beendete ich ihren Satz. Sie nickte, was mich zum Seufzen brachte. Sie klammerte sich immer noch an mich als würde sie mich nie wieder loslassen wollen. Ich streichelte währenddessen ihren Hinterkopf, um sie zeitgleich zu beruhigen und ihr zu versichern, dass ich immer noch da war. „Geht es dir jetzt ein wenig besser?" Brach ich schließlich die Stille und als ich ein Kopfnicken vernahm, atmete ich erleichtert auf. „Wärst du auch bereit mich kurz loszulassen? Ich denke, wir haben einiges zu besprechen." Ich wollte diese Worte nicht aussprechen, doch ich wusste, dass es getan werden musste. Durch die Markierung wird sich einiges ändern und ich möchte sie nicht im Dunkeln tappen lassen. Sie soll von nun an auf alles vorbereitet sein, was die Gefährtenverbindung angeht. Ich kann sie nicht länger damit alleinlassen. Wir sind nun aneinander gebunden. Ein Leben lang und ich werde sie nie wieder gehen lassen können. Genauso wenig wie sich mich verlassen wollen wird. Doch entgegen meinen Erwartungen, schüttelte sie den Kopf. „Ich will nicht, dass du gehst." Brachte sie flüsternd heraus, was mich kurz die Augen schließen und den Moment genießen ließ. „Ich werde nicht gehen. Nie wieder. Versprochen." Ich küsste ihre Schläfe und strich ihr behutsam über den Rücken. „Versprochen?" Ich nickte. „Versprochen." Sie löste sich langsam von mir, doch ließ die Augen auf mich gerichtet.
Da waren wir nun. Völlig entkleidet. Allein im Wald und Markiert. Diese Situation ist so absurd, dass sie fast schon wieder komisch ist. Ich musste leicht grinsen bei dem Gedanken daran. Monate lang sträubt sie sich auch nur die kleinste Verbindung mit mir einzugehen, doch sobald die Gefährtenbindung abgeschlossen ist, will sie mich nicht mehr loslassen. Faszinierend. Ich streckte ihr meine Hand entgegen, um zu signalisieren, dass es Zeit wird aufzustehen. Zögerlich ergriff sie diese und zog sich auf die Beine, welche unter ihrem Gewicht zu zittern begannen. Also legte ich meine Hand auf ihren Rücken und die andere unter ihre Knie und hob sie kurzerhand hoch. Ich kann ja schlecht verantworten, dass meine kleine Mate zusammenbricht. Was wäre ich dann für ein Gefährte? Sie gab ein leises Quieken von sich, ehe sie sich an meine Brust kuschelte und wir gemeinsam den Heimweg antraten.Das ist bereits jetzt einer der einprägsamsten und ereignisreisten Abende aller Zeiten und er hat noch nicht mal sein Ende gefunden. Das Schwierigste kommt erst noch und ich habe keine Ahnung, wie ich ihr verständlich und vor allem schonend beibringen soll, was sie mit diesem Biss alles angerichtet oder besser gesagt in Gang gesetzt hatte. Für uns Werwölfe ist das alles nichts neues. Wir werden ein Leben lang darauf vorbereitet, doch für Außenstehende hört sich das viel mehr nach Zauberei und Hexerei an.
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Der Hass meiner Gefährtin
WerewolfIn einer Welt, in der Menschen neben Werwölfen koexistieren, führt Olivia mit ihrer Mutter ein bescheidenes Leben, abseits der Zivilisation. Doch als sie plötzlich umziehen müssen, gerät sie in das Visier eines Alphas, welcher in ihr endlich seine G...