Als wäre nichts passiert

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Juna

Am nächsten Tag ist alles normal. Ich habe beschlossen, den Kuss auf den Alkohol zu schieben. Dann die Gefühlsduselei. Ja, dass muss es gewesen sein. Wir haben uns hinreißen lassen.
Jamie jedenfalls wünscht mir ganz normal einen guten Morgen und macht sich einen Kaffee. Ich habe ihn gesagt, dass er sich bedienen kann, wie er möchte. Er soll sich wie zuhause fühlen. Ich versuche so normal zu möglich zu sein und mir nicht anmerken lassen, dass mir der Kuss gestern Abend noch immer nicht aus dem Kopf geht. Ich beobachte ihn, wie er die Tasse unter den Vollautomaten wieder wegnimmt, Milch eingießt und mit einem Löffel in seiner Tasse rührt. Ich schaue in sein Gesicht. Er hat so lange Wimpern. Jede Frau wäre neidisch darauf.
Als sich sein Blick hebt, schaue ich schnell weg, trinke einen Schluck aus meiner Tasse. „Gut geschlafen?“ fragte er mich und mein Blick trifft auf seinen, was augenblicklich 1000 Schmetterlinge in meinem Bauch aufflattern lässt. „Ja, war okay“, schwindle ich. In Wahrheit hat er mir die ganze Zeit im Kopf herumgeschwirrt. Er und dieser Kuss. „Und du?“ frage ich und er verzieht das Gesicht. „Elva ist unglaublich unruhig im Bett. Sie hat mich mehrfach getreten“, erzählt er und ich kichere. „Kein Wunder, dass du schon auf bist“, stelle ich fest. „Und was ist deine Ausrede?“ will er schmunzelnd wissen. „Frühaufsteher, schon vergessen?“, erinnere ich ihn lächelnd. „Außerdem musste Elli raus“, ergänze ich. „Sie und Lenny toben noch draußen.“ Ich deute aus dem Fenster im Wohnzimmer, wo beide Hunde durch den Garten pesen. Elli hat keine Ambitionen weg zu laufen und Lenny somit ebenso wenig. „Danke, dass du ihn mit rausgenommen hast“, meint er und ich zucke mit den Achseln. „Kein Problem. Was macht dein Nacken?“ erkundige ich mich, als er ihn sich reibt. „Könnte besser. Hab wohl scheiße gelegen“, gibt er zu. „Wenn du möchtest, kümmere ich mich später nochmal darum“ schlage ich ihm vor. „Das wäre lieb.“
„Also, was möchtest du heute gern mit deinen Mädchen anstellen?“ frage ich dann. „Hm… das Wetter sieht gut aus. Wenn es so bleibt, könntest du uns den Aussichtsturm zeigen“, schlägt er vor. „Sehr gern“, stimme ich zu und entspanne allmählich. Er scheint entspannt zu sein und das färbt langsam auf mich ab. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn der Kuss noch immer zwischen uns hängen würde. Vielleicht erinnert er sich gar nicht mehr daran. Wir hatten ein paar Gläser Wein und ein paar Tequila. Vielleicht reicht das ja schon, um ihn Schach Matt zu setzen. Ich bezweifle es, aber er scheint zumindest nicht mehr an den Kuss zu denken. Wenn ich ihn bloß auch vergessen könnte.

Nach dem Frühstück packen wir Hunde und Kinder ins Auto und ich fahre die gut 12 Kilometer bis zum Parkplatz der Dammer Schweiz. Das Schild ist Jamie nicht entgangen und er lacht. „Also wie die Schweiz kommt es mir hier nicht vor“, meint er amüsiert und ich grinse. „Da kann ich dir nicht widersprechen. Unserer Berge sind höchstens große Hügel, aber dennoch sehr schön. Ich kann euch gleich noch den Bergsee zeigen. Dort gibt es auch einen tollen Waldspielplatz“, schlage ich vor. „Gern“, meint Jamie und wir machen uns auf den Weg zum Aussichtsturm.
„Hast du nicht was von einer Räubergeschichte erzählt?“ erinnert er mich dann. „Oh ja. Die Sage vom Mordkuhlenberg. Wollt ihr die hören?“ frage ich die Mädchen und Dulcie und Elva schauen mich neugierig an. „Ja, bitte“, fleht Dulcie und ergreift meine Hand. Jamie zwinkert mir zu und ich lächle, beginne zu erzählen:
„Mitten in den Dammer Bergen, etwa 500 Schritt von dem Fahrweg von Damme nach Steinfeld entfernt, erhebt sich ein eigenartiger Berg. An seinem Abhang führte in alter Zeit der Weg nach Dalinghausen durch eine lehmige Schlucht. In diesem Berg befand sich eine Räuberhöhle. Hier hausten vor langer Zeit drei Räuber und ein Hauptmann. Sie hatten von ihrer Höhle aus dünne Stricke durch die Schlucht gespannt, und wenn Reisende des Weges zogen und die Stricke berührten, so erklangen kleine Silberglocken, die an den Stricken befestigt waren. Dann sprangen die Räuber aus ihrem Versteck heraus und beraubten sie.“ Vier Kinderaugen kleben an meinen Lippen. Liva kennt die Geschichte und Alberta versteht sie noch nicht, sammelt lieber ein paar Kastanien und drückt sie ihren Vater in die Hand.

Wenn das Leben dir Zitronen gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt