Schmerz

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47. Schmerz

Juna

Es ist schön, Jamie und die Mädchen hier zu haben. Seit zwei Wochen sind sie hier und ich freue mich jeden Tag, wenn ich die Mädchen mittags nach der Arbeit, aus der Schule und dem Kindergarten holen kann. Liva kommt meist kurze Zeit später und dann essen wir gemeinsam zu Mittag. Den Nachmittag verbringen die Mädels meist gemeinsam. Liva genießt es, große Schwester sein zu dürfen und alle drei haben einen Narren an ihr gefressen und schauen zu ihr auf. Wenn Jamie am Abend nach Hause kommt, essen wir gemeinsam, machen manchmal noch einen gemeinsamen Spaziergang mit den Hunden. Na gut, oft sind es auch nur Jamie und ich, die gehen, denn die Mädchen haben oft keinen Lust. Aber das ist okay. Die meiste Zeit des Tages sind sie sowieso draußen an der frischen Luft, wenn es nicht grad in Strömen regnet.
Seit gestern Abend fühle ich mich unwohl und habe Unterleibziehen. Vermutlich weil das Baby wächst. So vermutet zumindest Jamie. Ich weiß gar nicht mehr, wie es damals bei Liva an Anfang der Schwangerschaft war. Das ist so lange her. Ich vertraue auf Jamie, bei dem das Papawerden noch nicht so lange her ist, und dessen Vater ein hochangesehener Gynäkologie Professor war.
Jamie ist wie jeden Morgen als erstes aufgestanden, hat die vier Mädels geweckt und sie nacheinander ins Bad geschickt. Während er Bertie beim Anziehen hilft, gehe ich ins Bad. Ich fühle mich matt und müde. Ich gehe zur Toilette und bekomme einen Schreck. Da ist etwas Blut auf dem Papier. Das ist nicht gut. Ich gehe in Berties und Elvas Zimmer rüber, als ich Jamie dort noch höre. „Alles okay? Du siehst blass aus“, meint er, als er zu mir sieht. Ich schüttle den Kopf und er erhebt sich, schickt Bertie nach unten, als sie fertig angezogen ist. Jamie streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Was ist los?“ fragt er besorgt. „Ich habe Blutungen. Nicht doll, aber….“ Ich zucke mit den Achseln. „Das ist nicht gut. Das solltest du abklären lassen“ bittet er mich und ich nicke. „Ich rufe gleich meine Chefin an und fahre dann zum Arzt“, versichere ich ihm und seufze. Jamie zieht mich in seine Arme. „Es wird alles gut, Darling“, versucht er mich aufzumuntern und ich nicke knapp, habe aber ein ungutes Gefühl. „Schaffst du es alleine, oder soll ich mitkommen?“ fragt er mich. „Ich krieg das hin.“ „Sicher?“ hakt er nach. „Ja, Jamie. Fahr du ruhig arbeiten“, lächle ich sanft und gebe ihm einen sanften Kuss, löse mich dann von ihm. „Ich mach uns Frühstück. Möchtest du Kaffee?“ fragt er mich, doch ich schüttle den Kopf. „Lieber Tee“, bitte ich und er nickt sanft lächelnd, geht nach unten. Ich gehe mir frische Unterwäsche anziehen , rufe dann meine Chefin an, die meint, dass ich auf mich aufpassen solle.
Anschließend gehe ich runter, setze mich zu den Anderen. „Guten Morgen, Mama“, wünscht mir meine Tochter und ich drücke ihr einen Kuss aufs Haar. „Guten Morgen, Spatz. Guten Morgen, ihr Mäuse“, wünsche ich auch den anderen drei Mädchen und streiche ihn über ihre Köpfe. „Guten morgen“, erwidern Elva und Dulcie. Bertie will auf meinen Schoß klettern, doch Jamie hält sie auf. „Nicht, mit deinen Nutellafingern.“ Er holt einen Lappen und will ihr die Finger abwischen, doch ich habe schon ihre Händchen geschnappt und lutsche das Nutella von ihren Fingern. Bertie gluckst und kichert, klettert dann auf meinen Schoß und wir beide kuscheln. Ich liebe es, wenn sie kuscheln kommt. Jamie lacht und wirft den Lappen zurück in die Spüle und setzt sich wieder mir gegenüber. Ich zwinkere ihm zu und er schenkt mir eines seiner herzerwärmenden Lächeln. Wie sehr ich diesen Mann doch liebe. Und seine Mädchen. Bertie nimmt ihr Nutellatoast und hält es mir hin. „Hm… danke Mäuschen“, sage ich, als ich abgerissen habe, aber so richtig schmeckt es mir nicht. Mir ist ein bisschen übel, weshalb ich dann doch lieber bei meinem Tee bleibe.
Wenig später ist Liva unterwegs zum Bus und auch Jamie macht seine Mädchen für die Schule und den Kindergarten fertig. „Ich möchte, dass du mich anrufst, wenn du nicht mehr kannst, oder dich nicht in der Lage fühlst, die Kinder abzuholen. Oder was auch immer ist. Ich kann jederzeit nach Hause kommen“, bittet er mich und ich nicke lächelnd. Nach Hause. Das hört sich schön an. Es ehrt mich.
Er gibt mir einen Kuss und zieht sich seine Schuhe und Jacke an. „Los, Abflug!“ ruft er seine Mädchen und kommt nochmal zu mir. „Ruf an. Jederzeit. Und sag mir, was deine Ärztin gesagt hat“, sagt er nochmal mit Nachdruck und ich nicke. Die drei Mädels kommen mir auch noch Tschüss sagen und als die vier aus der Haustür verschwunden sind, gehe ich die Hunde in den Garten schicken und lege mich aufs Sofa. Ich bin müde. Ich ziehe die Decke über mich und stelle den Wecker, damit ich rechtzeitig zum Arzt komme und schließe meine Augen für einen Moment.
Mein Handy bimmelt und ich stelle ihn murrend aus, erhebe mich. Ein Schmerz durchzuckt mich, dass ich mich krümmen muss und etwas feuchtes, warmes rinnt meine Oberschenkel entlang. Nein!!!

Jamie

Mit einem unguten Gefühl lasse ich Juna allein und bringe die Mädchen zur Schule, anschließend Bertie in den Kindergarten. Sie jammert heute kaum noch, so wie es die ersten Tage der Fall war. Sie morgens weinend den fremden Leuten zu überlassen, war eine harte Nuss für mich, doch jedes Mal, wenn Juna sie aus dem Kindergarten abgeholt hat, hat sie sie fröhlich vorgefunden. Das beruhigt mich. Heute Morgen hat sie nur kurz geweint, ist dann aber an Sarahs Hand mit in die Gruppe gegangen.
Nun bin ich gerade in Bremen bei Mercedes angekommen und schaue nochmal aufs Handy. Keine Nachricht. Das ist gut soweit. Man hat mir ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt, welches ich in der Zeit, während ich hier bin nutzen darf. Das neueste Model eines Elekto SUVs. Der Wagen ist der Hammer und es ist gut möglich, dass ich so einen Wagen kaufen werde. Die Arbeit hier macht mir großen Spaß. Die ersten Tage waren wir hauptsächlich damit beschäftigt, dass Team kennenzulernen und den Ablauf zu besprechen. Alle Leute sind sehr nett und es herrscht ein gutes Klima zwischen uns.
Nun sind wir schon mitten in der Produktion des Imagefilms und der Dokureihe. Ich darf von vorne bis hinten begleiten, wie so ein Auto entsteht. Von der Planung, den ersten Zeichnungen, über Prototypen, bis hin zur ersten Serie. Das ist äußerst interessant. Ich muss zwar nicht wirklich Schauspielern, aber den ein oder anderen Satz bekomme ich schon vorgelegt. Das meiste jedoch ist überaus authentisch und echt. Ich lerne eine Menge Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen kennen und alle sind höflich und nett zu mir, ohne künstlich zu wirken. Das beeindruckt mich zutiefst.
Wir kommen grad aus der morgendlichen Teamsitzung, als mein Handy geht. Es ist Juna, die mir vermutlich sagen will, was die Ärztin gesagt hat. „Hey, Darling“, begrüße ich sie und höre sie schluchzen. Nein! „Juna. Was ist los?“ frage ich beinahe panisch. „Da ist überall Blut“, weint sie und schluchzt erneut auf. Scheiße. „Shh. Darling. Ich bin unterwegs. Ich komme sofort“, verspreche ich. „Bitte ruf den Notarzt“, dränge ich. „Okay“, schnieft sie. „Ich… ruf dich gleich zurück.“ Sie legt auf und ich wende mich an Holger, dem Teamleiter zu. „Meine Freundin hat Blutungen. Ich muss sofort nach Hause“, mache ich ihm klar. „Ja, okay. Wir kommen klar. Fahr vorsichtig“, meint er und ich bin schon dabei, im Laufschritt das Gebäude zu verlassen. Scheiße, Scheiße!!!
Ich sitze bereits im Wagen, als Juna mich wieder anruft. Ein Krankenwagen ist unterwegs, sagt sie. Ich telefonieren die ganze Zeit über mit ihr, bis der Krankenwagen zu hören ist. Dann macht sie ihr Telefon auf Lautsprecher, während sie mit den Sanitätern spricht. Ich habe Mühe, alles zu verstehen. Sie reden teilweise ziemlich undeutlich, und mein Deutsch ist nach wie vor mieserabel, aber ich kann hören, dass sie sanft auf Juna einreden . Ein Notarzt ist auch wohl vor Ort, was mich beruhigt. „Jamie, ich werde ins Krankenhaus gebracht“, sagt Juna schließlich zu mir. „Okay, ich bin unterwegs. Ich beeile mich“, versichere ich ihr. „Fahr vorsichtig“, bittet sie mich. „Werde ich, versprochen. Ich liebe dich.“ „Ich dich auch, Jamie.“ Sie legt auf und ich schnaufe. Meine Konzentration ist für Arsch und ich muss mich bemühen, aufmerksam zu bleiben.
Eine knappe Stunde später komme ich am Krankenhaus an und erkundige mich nach meiner Freundin. Ich gehe den Flur entlang bis zur Gynäkologie und klopfe an die Zimmertür.
Juna lieg in einem Bett am Fenster und schaut auf, als sie die Tür hört. Ihre Augen sind gerötet und ich ahne Schlimmes. Eine weitere Frau liegt im Zimmer und sie bekommt große Augen, als sie mich sieht, doch ich ignoriere sie und gehe zu meiner Freundin, beuge mich zu ihr hinab und gebe ihr einen sanften Kuss. Ich setze mich an den Bettrand und sie nimmt meine Hand. „Und?“ frage ich und befürchte, dass ich die Antwort gar nicht hören will.  Sie seufzt und senkt den Blick. „Kein Herzschlag mehr“, sagt sie schließlich und mein eigenes Herz setzt auch für einen Moment aus. Ich ziehe sie wortlos in meine Arme und sie schluchzt leise, klammert sich an mich. Ich atme tief durch, um nicht selbst loszuheulen, reiße mich zusammen, um für sie stark zu sein. Eine Träne verirrt sich dennoch aus meinem Augenwinkel. Das tut weh. Höllisch weh, um genau zu sein und ich weiß für einen Augenblick nicht, wohin mit mir. Ich drücke Juna noch fester an mich, drücke mein Gesicht in ihre Haare und versuche, tief durchzuatmen. Das ist alles andere als einfach. Es ist, als würde etwas unglaublich schweres auf meinen Brustkorb drücken. Wenn es mich schon so unglaublich schmerzt, wie schlimm muss es dann erst für Juna sein?
Sie schnieft und wischt sich die Augen trocken, sieht mich traurig an. „Ich komme gleich in den OP. Dann wird es rausgeholt“, erklärt sie und ich schlucke. Mir ist mit einem mal speiübel und am liebsten würde ich mich übergeben. Ich will dieses miese Gefühl einfach aus mir herauswürgen, den Schmerz gleich mit und alles vergessen. „Es tut mir leid“, flüstert Juna und ich sehe sie ungläubig an. „Dich trifft doch keine Schuld, Darling“, sage ich. „Ich… meine Zweifel und alles…“ murmelt sie und wischt sich über die Augen. „Ach Honey…“ sage ich beinahe verzweifelt und ziehe sie nochmal in meine Arme. Ich brauche sie. „Du kannst nichts dafür“, seufze ich und schließe meine brennenden Augen.

Wenn das Leben dir Zitronen gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt