Einsicht

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20. Einsicht

Jamie

Ich wage mich nach Unten, wo Millie in der Küche steht. Sie hat mir den Rücken zu gekehrt und holt Tassen aus dem Schrank. „Millie….“ spreche ich sie an und sie zuckt erschrocken zusammen, fährt herum. Ich schlucke, als ich ihr blasses Gesicht sehe. „Es tut mir leid“, sage ich sanft und sie hebt die Hand. „Nicht. Entschuldige dich nicht, wenn es dir nicht wirklich Leid tut“, fährt sie mich an. „Juna heißt sie also, ja….?“ Verdammt, ich habe es doch laut gesagt. Ich reibe mir den Nacken, nicht wissend, was ich sagen soll. „Du hast dich verändert“, sagt sie dann leise und ich schnaufe. „Kannst du es mir verübeln? Ich war ein Jahr lang alleine…“
„Nicht jetzt. Vorher schon. In Australien. Dann als wir wieder zuhause waren. Du warst so anders…“ unterbricht sie mich und ich lache auf. „Mein Dad ist gestorben. Ich konnte mich nicht verabschieden, konnte ihm nicht Mal auf seinem letzten Weg begleiten. Und alles, was du getan hast, war dich darüber zu beschweren, dass du dank der beschissenen Pandemie nicht raus kannst…“ schimpfe ich und verstumme, als die Mädchen runterkommen.
„Sag mir nur eins“, meint sie, als die Mädchen abgelenkt sind und ich bin ganz Ohr. „Habt ihr miteinander geschlafen?“ will sie wissen und ich atme tief durch. „Ja“, sage ich wahrheitsgemäß. „Einmal?“ Ich schüttle den Kopf und sie schließt traurig die Augen, nickt dann. „Bringst du die Kinder zur Schule und zum Kindergarten?“ wechselt sie dann das Thema und wagt es nicht, mich anzusehen. Sie ist verletzt, dass kann ich verstehen, aber das Recht dazu hat sie nicht. Sie war weg. Und das nicht erst seit gestern. Soll sie schmollen, mir egal…
„Klar. Hab eh Termine“, murmle ich und kann sehen, dass Millie die Augen verdreht. Damit geht sie mir tierisch auf den Sack, aber ich sage nichts, denn ich sehe, dass Dulcie zwischen mir und ihrer Mom hin und schaut. Ich will die Mädchen nicht noch mehr stressen.
Wir frühstücken stillschweigend, nur die Mädchen plappern. Korrigiere, Elva plappert unaufhörlich. „Jetzt sei ruhig, verdammt“, herrscht Milli unsere Mittlere an und ich werfe ihr einen vernichtenden Blick zu. „Lass deine Laune nicht an den Kindern aus“, herrsche ich sie an und bitte die Mädchen, sich Schuhe und Jacke anzuziehen. Eigentlich habe ich heute vor gehabt, den Weihnachtsbaum aufzustellen und zu schmücken, aber das ist mir gründlich vergangen. Ich ziehe meine Schuhe an, nehme meine Jacke und schnappe mir die Autoschlüssel und verlasse das Haus. Ich fluche innerlich und versuche runterzukommen. Die Mädchen können schließlich nichts dafür. Ich schließe die Tür nachdem ich Bertie in ihren Sitz gepackt habe und steige ins Auto, fahre erst zum Kindergarten, dann zur Schule. Elva schnappt sich ihre Schultasche, die ich ihr reiche und sie drückt mir einen Kuss auf, flitzt dann auch schon los. Dulcie nimmt zögernd ihre Tasche. „Du und Mami habt euch nicht mehr lieb, oder?“ fragt sie mich und es zerreißt mir das Herz. „Es ist im Moment nicht so einfach, Spatz“, sage ich sanft und streiche ihr über ihr blondes Haar. „Ich bin auch immer noch böse auf sie“, fügt sie hinzu und ich bin überrascht über ihre Gefühle. Ich seufze und hocke mich auf Augenhöhe, ergreife ihre Hände. „Du solltest nicht böse auf Mami sein. Ihr ging es nicht gut“ rechtfertige ich Millie. „Aber sie hat uns alleine gelassen. Darüber darf man sauer sein“, meint sie und ich ziehe sie in meine Arme, halte sie fest an mich gedrückt. Mein großes, schlaues Mädchen. Sie ist so wahnsinnig feinfühlig und empathisch. Ich drücke ihr einen Kuss an die Stirn und erhebe mich. „Du musst los. Es klingelt gleich. Hab viel Spaß“, wünsche ich ihr und sie schenkt mir ein Lächeln. „Danke Daddy. Du auch“, meint sie und läuft los, winkt mir.
Ich schaue ihr nach, bis sie im Schulgebäude verschwunden ist. Dann steige ich wieder ins Auto und fahre zu Sam, meiner Agentin. Sie hat ein paar Angebote für mich. Guinnes will einen weiteren Werbedeal mit mir und außerdem hat Mercedes wohl angefragt. Das soll eine richtig große Sache werden. Ich bin äußerst gespannt. Abschließend treffe ich mich mit Kenneth, zum unterschreiben des Vertrages. Wir werden diesen Agatha Christie Film gemeinsam machen und ich freue mich sehr darauf. Im Januar soll es los gehen. Vermutlich wird der Dreh 6 bis 8 Wochen dauern und wir drehen hauptsächlich in London. Zwischendurch erreicht mich eine Nachricht von Millie. „Es tut mir leid, Jamie. Bitte lass uns heute Abend noch einmal in Ruhe reden. Ich denke, da muss noch einiges gesagt werden. Hab einen schönen Tag“, schreibt sie und ich seufze. Ich weiß nicht, wie lange ich das alles noch aushalte, aber sie hat recht, wir müssen dringend reden.

Als ich am Abend nach Hause komme, hat Millie ein leckeres Abendessen gemacht. Meine drei Mädchen kommen auf mich zugerannt und fallen mir in die Arme. Ich lache und nehme DD und Elva auf einmal hoch, lasse mir von beiden einen dicken Schmatzer aufdrücken. Dann nehme ich meine Kleine hoch, die sich an mich klammert und gleich kuschelt. Meine kleine Kuschelmaus.
„Hey“, begrüße ich Millie, die am Herd steht und sie dreht sich zu mir um, lächelt versöhnlich. „Hi. Ich hoffe, du hast Hunger“, meint sie und ehrlich gesagt liegt mir etwas ganz anderes im Magen. Aber gut, das muss warten, bis die Mädchen im Bett sind.
Das ist knapp zwei Stunden später der Fall. Ich habe allen drei eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen und schließlich Alberta rüber in ihr Bett getragen. Ich decke sie zu, drücke ihr ein Küsschen auf die Stirn und wünsche ihr eine Gute Nacht.
Als ich wieder runter komme, sitzt Millie am Esszimmertisch und wartet auf mich. Ich setze mich zu ihr und warte ab. Soll sie anfangen. Überraschenderweise legt sie ihre Hand auf meine und lächelt mich sanft und traurig zugleich an.
„Ich denke, ich sollte mir eine Wohnung suchen und ausziehen“, meint sie und ich sehe sie überrascht an. „Aber, ich dachte…“ murmle ich. „Das was wir hier machen, führ doch zu nichts, Jamie. Du bist nicht bereit, mir zu verzeihen und mal ehrlich, wenn du mich in diese Lage gebracht hättest, ich würde dich hassen, bis in alle Ewigkeit. Es war unverzeihlich, einfach zu gehen. Das weiß ich heute. Ich kann nichts ungeschehen machen, so gern ich es möchte. Ich liebe dich, werde es vermutlich immer tun, aber wie soll das funktionieren, wenn du längst jemand anderes in dein Herz gelassen hast. Ich wünsche mir, dass du glücklich bist. Und ich habe erkannt, dass nicht ich es bin, die dich glücklich macht“, sagt sie und ich bin platt. „Aber die Mädchen….“, murmle ich. „Die Mädchen werden darüber hinwegkommen. Ehen werden nun mal geschieden. Und ich weiß, wir werden das ganz toll hinbekommen, wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen. So wie es jetzt läuft ist keine Option. Für keinen von uns. Weder für dich, noch für mich und schon gar nicht für unsere Kinder.“
Sie verlässt mich. Schon wieder… Aber diesmal weiß ich, warum… „Ich will, dass die Kinder bei dir bleiben, denn ich habe gesehen, dass du das wunderbar hinbekommst. Aber ich möchte sie sehen. So oft es geht“, bittet sie mich und ich sehe sie an, frage mich, ob das alles ein Scherz ist… aber nein. Ich sehe Entschlossenheit in ihrem Blick. Und Zuneigung. Ich nicke. Wir können das hinkriegen. Gemeinsam, als Eltern, aber eben nicht als Paar. Eigentlich habe ich damit rechnen müssen, aber ich habe nicht gedacht, dass sie diejenige ist, die nochmal geht. Auf der einen Seite fühle ich mich, als hätte ich versagt. Ich habe es gründlich versiebt. Nein… nicht ich. Ich habe mir lange genug die Schuld für Alles gegeben. Sie war diejenige, die uns verlassen hat.
Ich lege meine Hand auf ihre, die noch immer meine hält und drücke sie. Millie lächelt mich aufrichtig an, dann steht sie auf und nimmt ihre Jacke. Erst jetzt sehe ich die gepackte Tasche. „Du gehst?“ frage ich überrascht und sie lächelt traurig. „Ja. Ich werde morgen Vormittag herkommen und dann reden wir mit den Mädchen“, entscheidet sie. Wow. Es passiert wirklich. Jetzt sofort. Ich erhebe mich ebenfalls und als sie an der Tür steht, schließe ich sie fest in meine Arme. Ich liebe sie noch immer. Werde ich immer, doch es reicht nicht. Unsere Ehe ist gescheitert. Diese Erkenntnis ist ziemlich hart, und so kann ich nicht verhindern, dass mir Tränen kommen. Weinend halten wir uns in den Armen. So viele Jahre waren wir Jamie und Mille. Die Dornans. Und jetzt sind wir Millie, die Kinder und ich. Es gibt kein Wir mehr, keine gemeinsame Zukunft.
Sie löst sich langsam von mir und wischt sich die Augen trocken. Legt dann ihre Hand an meine Wange. Sanft legt sie ihre Lippen auf meine, ein allerletztes Mal und ich erwidere den Kuss sanft.
„Ich wünsche mir, dass du glücklich bist, Jamie. Ruf sie an“, meint sie lächelnd und verlässt das Haus.
Ich schließe die Tür, als ich sie nicht mehr sehe und atme tief durch. Ich wische mir übers Gesicht und bleibe noch einen Moment stehen. Ich soll sie anrufen….? Soll ich das wirklich tun? Millie und ich haben uns doch gerade erst getrennt…. Nein, eben nicht. Unsere Ehe war in dem Moment vorbei, als ich Juna geküsst habe. Sie ist es, der mein Herz gehört. Ich gehe ins Esszimmer, wo mein Telefon liegt und starre einen Moment darauf. Dann sammle ich mich und wähle Junas Nummer. Mein Herz Klopft bis zum Hals, als es tutet und schließlich jemand rangeht.

Juna

Ich packe mit Liva ihre letzten Sachen zusammen. Mike ist da, und will mit Liva das Wochenende verbringen. Mein Telefon klingelt „Kannst du rangehen? Ich bin sofort unten!“ bitte ich Mike und packe Livas Zahnbürste, Zahnpasta und so weiter ein. Das Klingeln verstummt und ich höre Mike leise reden.
Liva und ich kommen runter, als er das Telefon zurück legt. „Wer war dran?“ frage ich. „Niemand. Hat sich verwählt“, sagt er. „Oh. Okay“, erwidere ich und bringe Liva zum Auto ihres Vaters. „Sei lieb und wenn was ist, ruf an“, sage ich zu meiner Tochter, während ich sie verabschiede. „Ja, Mama“, kichert sie und steigt ins Auto. Ich winke ihnen und bin alleine.
Ich gehe in die Küche und mache den Ofen für meine Lasagne an. Dann schaue ich auf mein Telefon und schaue meine Anrufliste an. Nichts ist von dem Anruf von vorhin zu sehen. Merkwürdig.

Wenn das Leben dir Zitronen gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt