Alles wird gut

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38. Alles wird gut

Jamie

Ich habe am nächsten Morgen gleich mit Ken gesprochen, anschließend mit Millie. Sie kann die Mädchen zu sich nehmen. Ich habe einen Flug nach Deutschland gebucht, und sitze nun im Flugzeug. Ich habe leider nur einen Flug nach Frankfurt bekommen, also warten nachher noch mindestens vier Stunden Fahrt auf mich. Ich schließe die Augen und versuche wenigstens für eine halbe Stunde zu dösen. Als mein Wecker heute morgen geklingelt hat, war ich hundemüde, außerdem quälen mich seitdem Kopfschmerzen, die sich nicht mal mit zwei Landungen Ibuprofen bändigen lassen. Der Flug ist unruhig und ich bekomme kein Auge zu. Der Pilot muss seine Landung ein zweites Mal ansteuern, weil er beim ersten Versuch zu viel Rückenwind hatte. Beim zweiten Mal gelingt ihm die Landung, auch wenn sie etwas holprig ausfällt. Dennoch wird er mit Applaus belohnt.
Ich hole mein Gepäck, checke aus und gehe zur Mietwagenvermietung, wo ich einen VW Golf mit Gangschaltung ergattere. Ich hoffe, ich krieg das noch hin. Ich bin ewig keinen Schaltwagen gefahren.
Bei der Anfahrt säuft er mir tatsächlich einmal ab und auch beim Schalten vergesse ich die ersten Paar Male, die Kupplung zu treten, aber es geht. Irgendwie zumindest. Als ich auf der Bahn bin, habe ich erst mal Ruhe mit dem Schalten. Ich habe das Radio etwas lauter, als Normal, damit es mich wach hält. Verdammt, bin ich müde. Und diese Kopfschmerzen machen ihr Übriges. Ich komme in einen Stau und verfluche dieses Auto. Ständig die Kupplung halb gedrückt halten, im Schritttempo fahren und darauf achten, dass einem die Karre nicht absäuft. Ich weiß schon, warum ich zuhause einen Automatik fahre. Damit ist es um einiges einfacher.
Endlich geht es weiter und ich müsste ungefähr die Hälfte geschafft haben. Juna weiß nicht, dass ich unterwegs zu ihr bin und ich hoffe, die knallt mir nicht gleich wieder die Tür vor der Nase zu. Sie hat sich nicht gemeldet und ich wage auch keine Nachricht. Ich habe Schiss vor der Antwort.
Plötzlich sehe ich vor mir Bremslichter und ich trete mit aller Kraft auf die Bremse, komme gerade noch zum Stehen, bevor ich auf den LKW vor mir knalle, und seufze erleichtert auf. Himmel, jetzt bin ich wach. Ich sollte gleich einen Rastplatz ansteuern und mir einen Kaffee….

Ein Knall, ich werde in den Sitz zurückgeschleudert und in meinen Ohren piept es gewalltig. Ehe ich es realisiert habe, werde ich gegen den LKW vor mir gedrückt und ich kann gerade noch die Hand vor mein Gesicht halten, als die Windschutzscheibe birst.
Ich bin eingeklemmt und meine Beine tun weh, aber ich habe schon Schlimmeres erlebt. Ich atme tief durch und versuche mich zu sammeln und auf die Reihe zu kriegen, was passiert ist. Ein Wagen ist auf mich drauf geknallt und hat mich auf den LKW vor mir geschoben. Ich kann mich nicht rühren, bin fest in meinen Sitz eingeklemmt. Es stinkt nach Talkum aus den geplatzten Airbags. Meine Hand und mein Arm blutet. Vermutlich wegen der Glassplitter der Windschutzscheibe. Menschen kommen angelaufen und leuchten in mein Wageninneres. Es ist fast dunkel. Sie sagen etwas zu mir, was ich nicht verstehen kann. Und dann spricht jemand auf Englisch. „Können sie mich verstehen? Wie geht es Ihnen?“ „Mir geht’s gut. Ich kann mich nur nicht rühren. Bin eingeklemmt“, erwidere ich. „Haben sie Schmerzen?“ fragt er mich weiter. „Nicht sonderlich. Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist.“ „Gut. Reden sie mit mir. Wie heißen sie? Wie alt sind sie?“ will er wissen. Vermutlich will er verhindern, dass ich ohnmächtig werde, oder so. „Ich heiße Jamie“ sage ich. „40 Jahre alt.“ Ich schließe meine Augen. Mein verdammter Schädel hört nicht auf zu brummen und ich bin müde. „Hey, wachbleiben. Sehen sie mich an. Ist ihnen übel?“ Ich öffne wieder die Augen. „Nein.  Ich habe nur Kopfschmerzen.“ „Haben sie sich den Kopf angeschlagen?“ fragt er „Nein, bin damit schon aufgestanden“, erkläre ich. „Der Krankenwagen und die Feuerwehr ist unterwegs. Bald kommen sie hier wieder raus“, sagt er beruhigend und Ich nicke.
Es dauert noch ein paar Minuten, dann ist Blaulicht zu sehen und Sirenen zu hören. Meine Beine schlafen ein und werden taub. Ein widerlichen Gefühl und ich bewege wenigstens meine Zehen, was aber nicht viel bringt. Sanitäter kommen zu mir und eine Frau legt mir eine Halskrause an. Zur Vorsicht, wie sie erklärt. Sie stellt mir Fragen, misst meinen Blutdruck und meinen Puls, wobei beides recht normal ausfällt. Zumindest in Hinsicht auf meine Lage. „Jetzt wird’s laut“ warnt sie mich und dann höre ich Sägen, Trennscheiben und hydraulische Zangen arbeiten. Ich schließe die Augen, atme tief durch und denke an Juna. Ich sollte sie anrufen, denke ich. Wo ist mein Telefon? Es ist noch in meiner Jackentasche, die ich auf den Beifahrersitz gelegt habe. Sie ist vermutlich runtergerutscht. Das muss also warten.
Endlich sind meine Beine frei und das Kribbeln lässt nach. Was für ein fieses Gefühl. Ich werde aus dem Auto gezogen, auf die Trage gelegt und festgeschnallt. Als ich das Autowrack sehe, wird mir übel. „Sie hatten wohl einen ordentlichen Schutzengel“, meint sie Sanitäterin. „Wohl eher zwei“, murmle ich und schicke gedanklich ein Dankesgebet an meine Eltern. „Mein Handy. Ich muss meine Freundin anrufen“, sage ich, als ich in den Rettungswagen geschoben werde. „Sie bekommen ihr Telefon. Nichts wird verloren gehen, versprochen. Es wird jemand ihre Freundin anrufen. Sagen sie mir eine Telefonnummer und ich werde dafür sorgen, dass sie benachrichtigt wird.“ Super, als wenn ich ihre Nummer im Kopf hätte. Ich kenne ja kaum meine Eigene. „Ihr Name ist Juna Fraser. Sie wohnt in Niedersachsen“, erkläre ich und nenne ihr den Ort und hoffe, Junas Nummer steht im Telefonbuch.

Juna

Ich bin dabei, Livas Lieblingsessen zu kochen, als das Haustelefon klingelt. Ich nehme an, es ist Becki, denn sie ist so ziemlich die Einzige, die mich auf meinem Hausanschluss anruft. Die Nummer kenne ich nicht, weshalb ich zögere, dann aber doch rangehe. „Hallo…?“ melde ich mich. „Spreche ich mit Frau Juna Fraser? Hier ist das St. Martinus Krankenhaus in Olpe“ sagt jemand. Ein Krankenhaus? In Olpe? Was ist passiert? Ich kenne dort niemanden. „Äh, ja. Ich bin Juna Fraser“, bestätige ich. „Wir rufen sie an, um ihnen mitzuteilen, dass ihr Lebensgefährte nach einem Verkehrsunfall bei uns eingeliefert wurde.“ Lebensgefährte? Geht es etwa um Mike? Was macht er in Olpe. „Mike? Wie geht es ihm?“ frage ich erschrocken. „Hier ist kein Mike. Sein Name ist James Dornan. Tut mir Leid, wenn ich mich verwählt habe.“, Jamie… Großer Gott. Mir rutscht das Herz in die Hose war er auf den Weg zu mir? „Jamie? Oh Gott. Bitte, sagen Sie mir, ist er schwer verletzt?“ frage ich panisch und Liva kommt angelaufen, will wissen, was los ist. „Das kann ich ihnen im Moment noch nicht sagen. Er wird noch untersucht. Aber er war ansprechbar und bei klarem Verstand“, Gott sei dank, immerhin. Ich seufze erleichtert auf. „Darf… Kann ich zu ihm kommen?“ frage ich mit zittriger Stimme. „Selbstverständlich“, erwidert sie und verabschiedet sich.
„Mama, was ist passiert?“ will Liva wissen. „Jamie hatte einen Autounfall. Ich weiß nicht genau, was passiert ist“, sage ich und bin selbst ganz platt. Tränen sammeln sich in Livas Augen. „Schhh Spatz. Nicht weinen. Alles wird gut. Er war ansprechbar. Es wird nichts schlimmes sein. Da bin ich mir sicher“, beruhige ich sie, und mich selbst auch. „Fahren wir hin?“ will sie wissen. „ICH fahre hin. Du bleibst hier. Du hast morgen Schule. Ich rufe Becki an“, erkläre ich, und meine Tochter will protestieren. Jedoch ohne Erfolg. Sie bleibt hier. Ich weiß doch selbst nicht, was mich erwartet.
Ich rufe Becki an, die verspricht, sofort herzukommen.
Zu meiner Überraschung ist auch Ingo mitgekommen. Er bittet Liva, ein paar Sachen zu packen. Er wird sie mitnehmen. Und Becki will mit mir mitfahren. „Ich lasse dich doch nicht alleine den weiten Weg fahren, wo du doch total durcheinander bist. Nachher bist du die nächste, die ins Krankenhaus gebracht wird“, macht sie mir unmissverständlich klar und ich umarme sie. Sie ist meine Beste! Was würde ich bloß ohne sie machen?

Becki versucht mich bei Laune zu halten. Aber sie merkt schnell, dass meine Stimmung im Keller ist. Und schließlich muss ich ihr die ganze Geschichte erzählen.
„Du wolltest echt mit ihm Schluss machen?“ fragt sie mich beinahe entsetzt. „Ich weiß es nicht. Ich muss doch an Liva denken“, murmle ich. „Liva hat den ersten Schrecken gut verarbeitet, finde ich. Und scheinbar will sie jetzt mit offenen Karten spielen, was meiner Meinung ja echt schon längst fällig war. Sie wird immer wieder in solche Situationen kommen. Auch im Erwachsenenalter“, meint sie. „Das weiß ich doch“, schnaufe ich. „Klar, war es nicht schlau von Jamie, euch das vorzuenthalten, aber gleich Schluss machen? Du hast sie doch nicht mehr alle! So einen tollen Mann kriegst du nie wieder. Er sieht unverschämt gut aus, hat was in der Birne, hat einen klasse Humor und aus mir unerfindlichen Gründen ist der Kerl absolut verrückt nach dir“, fährt sie mich beinahe an. „Na herzlichen dank“, schnaufe ich, weiß aber, dass sie Recht hat. Ich liebe Jamie. Und so eine Sache sollte uns nicht außeinandertreiben, sondern noch enger zusammen schweißen. Ich seufze. Ich hab solche Angst um ihn. Ist er schlimm verletzt? Ich war gemein und ungerecht zu ihm. Und es tut mir leid, dass ich ihm heute morgen nicht geschrieben habe. Das hat er nicht verdient. Alles hat doch eine gute Wendung genommen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte ich ihm schreiben sollen. Er hat sich in den nächsten Flieger gesetzt und wollte zu uns. Ihm hat alles daran gelegen, die Geschichte zu klären. Und nun liegt er im Krankenhaus. Ich fühle mich schuldig. Hätte ich nicht…. „Hör auf damit“ herrscht mich Becki an und ich sehe sie an, wische mir trotzig die Tränen weg. „Wag es bloß nicht, dir jetzt die Schuld zu geben!“ befielt sie und ich schniefe. Ich schweige lieber und sehe aus dem Fenster. Mir ist übel, wie immer wenn ich Kummer habe.
Gefühlte Stunden später erreichen wir das Krankenhaus und ich erkundige mich gleich nach Jamie. Die Dame am Empfang nennt mir die Zimmernummer und wir machen uns auf den Weg. Im Flur setzt sich Becki auf einen Stuhl und ich sehe die fragend an. „Geh erstmal alleine rein. Und wenn er wach ist, redet. Ich kann ihm später noch auf den Keks gehen“, sagt sie und ich umarme sie nochmal. „Danke“, murmle ich. „Jaja. Hau schon ab“, scheucht sie mich und ich klopfe leise an die Zimmertür, öffne sie und schaue durch den Spalt. Jamie hat sein Gesicht dem Fenster zugewandt und regt sich nicht. Er atmet ruhig und ich erkenne, dass er schläft. Ich betrete vorsichtig das Zimmer und schließe so leise wie möglich die Tür.
„Juna…“ höre ich leise und ich drehe mich um, sehe in Jamies blasses Gesicht. Er hat ein paar kleine Pflaster an der Stirn und an der Wange und erst jetzt sehe ich, dass ein Arm verbunden ist. Ich bleibe unschlüssig an der Tür stehen und beiße mir auf die Unterlippe. Jamie streckt die Hand nach mir aus. „Komm her“, bittet er mich und ich gehe die paar Schritte zum Bett, ergreife seine Hand, lasse meinen Kopf an seinen Hals sinken und beginne zu weinen.

Wenn das Leben dir Zitronen gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt