36. Panik
Juna
Es wundert mich nicht, dass Jamie unmittelbar anruft, denn ich habe ihn ganz schön hingehalten. Zuerst war ich zu wütend, um mit ihm zu reden. Dann bin ich mit Liva ins Kino gefahren, um sie abzulenken. Jetzt aber, denke ich, es ist Zeit, mit ihm darüber zu reden. Ich habe viel nachgedacht. Ich liebe ihn, aber ich weiß, es werden immer wieder Sachen über uns geschrieben werden. Das kann ich doch meinem Kind nicht zumuten. Sie werden sich das Maul über sie zerreißen und das kann ich nicht zulassen.
„Hi“ melde ich mich leise, als Jamie anruft. „Hey“, antwortet er und ich erwidere nichts. „Es tut mir leid, Juna“, sagt er dann. „Sollte es auch…“ murmle ich und höre ihn seufzen. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie mit diesem Artikel den Bezug gleich auf euch ziehen“, erklärt er. „Was hast du erwartet, Jamie? Die Leute hier haben dich gesehen…“ „Aber du hast mich als deinen Cousin vorgestellt. Niemand hat mich angesprochen…“ redet er sich raus. „Und Wenn schon, Jamie. Die Leute sind doch nicht blöd. Die ganze Welt kennt dich. Denkst du allen Ernstes, dass es hier kein Internet, Fernsehen oder Kino gibt? Natürlich haben dich einige erkannt. Sie haben nur den Anstand gehabt, dich in Ruhe zu lassen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht hinter dem Rücken über dich und mich reden. Hier kennt Jeder Jeden und da wird sich laufend das Maul über einen zerrissen. Aber niemand würde auf die Idee kommen, der Presse zu sagen, wo du bist. Weil sie nicht mal den Arsch dazu in der Hose hätten….“ mache ich ihm klar und wieder seufzt er. „Eltern reden… Kinder bekommen es mit. Kinder sind grausam. Und nun liegt Liva weinend in ihrem Bett und will nicht mehr zur Schule.“ „Juna…verdammt, es tut mir leid. Es war unglaublich leichtsinnig von mir, zu glauben, niemand würde dahinter kommen. Was würde ich dafür tun, um es ungeschehen zu machen. Alles was ich will, ist, dass es euch gut geht. Ich liebe euch. Es ist alles meine Schuld“, bedauert er und ich weiß, wie leid es ihm tut. Ich weiß, dass es nie seine Absicht war. „Nein, ist es nicht“, wende ich ab und Jamie stutzt. „Was? Juna, ich allein trage sie Verantwortung…“ „Eben nicht. Ich war es doch, die deiner Familie von Liva erzählt hat. Von ihrer Kindheit und wie ich gemerkt habe, dass in meinem Jungen ein Mädchen steckt. Liva und ich machen in unserem Umfeld kein Hehl daraus, aber natürlich möchte sie auch nicht, dass jeder sie als das Mädchen ansieht, das mal ein Junge war. Sie will nur Liva sein. Und wenn ich nichts gesagt hätte, dann….“ „Nein, Juna…“, wendet Jamie ein, doch ich unterbreche ihn. „Lass mich bitte ausreden…. Wie oft hast du mir gesagt, wie schwer es für dich ist, fremden Menschen zu vertrauen. Weil du nie weißt was du wem erzählen kannst. Ich hätte wissen müssen, dass für mich von nun an das Gleiche gilt. Ich hätte wissen müssen, dass es irgendwann jemand auftischt. Und sie werden immer wieder über Liva schreiben. Es wird immer heißen, Jamies Freundin mit ihrem transsexuellen Kind… Das kann ich Liva nicht antun. Ich war dumm zu glauben, dass alles beim Alten bleiben wird. Dumm und egoistisch….“ beende ich meinen Monolog. „Bitte tu das nicht…“ bittet mich Jamie mit brüchiger Stimme und ich kann mich nicht länger zusammenreißen und schluchze. „Sh… bitte, weine nicht…“ fleht er, doch ich kann nicht anders. „Juna, ich liebe dich….“ „Ich… Ich dich doch auch, aber… Ich muss an mein Kind denken…“, weine ich. „Juna… bitte…“, bittet er leise. Ich kann nicht mehr. „Jamie… Ich muss darüber nachdenken…“ schniefe ich. „Okay…“ murmelt er traurig. „Ich würde so gerne bei dir sein. Für euch da sein…“ „Ich weiß… machs gut, Jamie. Ich… melde mich“, sage ich und lege auf, breche erneut in Tränen aus. Ich liebe ihn. Ich brauche ihn, aber ich muss an Liva denken. Ich will dass sie ein schönes Leben hat.
Plötzlich legen sich Arme um mich und ich drücke meine Tochter an mich, versuche meine Tränen zu trocknen. „Ich möchte nicht, dass ihr Schluss macht. Ich mag Jamie. Ich hab ihn gern“, flüstert meine Tochter schließlich.Jamie
Sie legt auf und ich starre aufs Telefon. Hat sie gerade Schluss gemacht? Der Klos in meinem Hals wird dicker und dicker und nimmt mir beinahe die Luft zum Atmen. Nein. Ich will sie nicht verlieren. Ich DARF sie nicht verlieren. Ich brauche sie!
Zum ersten Mal in meinem Leben verfluche ich meine Arbeit. Verfluche meinen Erfolg und wünsche mir, ich hätte irgendeinen stinknormalen Job.
Ich bin kurz davor zu verzweifeln und will am liebsten heulen, etwas wutentbrannt gegen die Wand pfeffern, mich betrinken… Aber ich rühre mich nicht. Ich sitze da, wie betäubt und starre auf mein Telefon. Ich sehe mein Hintergrundbild. Ein Foto von mir und Juna, als ich sie zum Cerrick a Reed gebracht habe. Sie lehnt an meiner Brust und lächelt verliebt in die Kamera. Ich liebe sie so sehr….
Meine Augen behinenn zu brennen und ich vergrabe mein Gesicht in meine Hände und schluchze. Ich habe versagt und fühle mich unfassbar einsam. Ich will bei Juna sein. Ich will in den nächstem Flieger steigen und zu ihr fliegen. Ich will sie in meinen Armen halten. Sie bedeutet mir so unsagbar viel. Sie ist mein Herz, mein Zuhause. Mein Herz schmerzt und ich gebe mich meinen Kummer hin, weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich sie nochmal anrufen? Soll ich zu ihr? Nein. Ich habe Mist gebaut und das ist die Konsequenz dafür.
Ich reibe mir übers Gesicht und wische mir die Tränen weg. Ich lasse Lenny in den Garten, der vor mir sitzt und winselt. Ich schaue ihm zu, wie er durch den Garten streift. Der Garten ist klein. Um ein vielfaches Kleiner als in Costwolds. Oder bei Juna… Plötzlich habe ich das Gefühl, alles würde mich erdrücken. Alles ist so klein und ich habe regelrechte Beklemmungsgefühle. Ich atme hastig, habe das Gefühl zu ersticken. Mein Herz rast, mein gesamter Körper scheint zu zittern.
Ich weiß, was hier gerade passiert. Eine klassische Panikattacke und eigentlich weiß ich genau, wie ich da raus komme. Aber ich schaffe es nicht. Lange habe ich keine Panikattacke mehr gehabt. Zuletzt in Australien, in diesem Hotelzimmer. An dem Tag, als mein Vater starb. Meine erste Panikattacke bekam ich im Alter von 16 Jahren, als Mom ihre letzten Tage erlebte und ich realisierte, dass ich sie nicht mehr lange haben würde. Ich bekam eine, als ich bemerkte, welche Ausmaße Fifty Shades of Grey annahm. Ich hatte einige, aber ich habe es geschafft, da rauszukommen.
Ich muss atmen. Ruhig und gleichmäßig.. Tief ein. Und tief aus. Ich setze mich auf den Boden neben der Terrassentür und lehne mich an die Wand. Meine Arme hängen über die angezogen Knie. Die Augen geschlossen. Einatmen… Ausatmen… Langsam beruhigt sich mein Herzschlag und auch ich werde ruhiger. Das Zittern lässt nach. Lenny kommt zu mir, stubst mich an und fiept. „Schon gut, Kumpel. Alles in Ordnung…“ murmle ich, streichle ihn und vergrabe mein Gesicht in sein weiches Fell. Dann erhebe ich mich und bin unglaublich erschöpft. Ich will ins Bett. Will versuchen zu schlafen und endlich diesen verfluchten Tag hinter mich bringen. Ich schließe die Tür, lösche die Lichter und gehe nach oben. Und als ich im Bett liege, bekomme ich kein Auge zu. Ich denke an Juna. Und an Liva, was sie meinetwegen durchleben muss. Das alles tut mir unglaublich leid.
Seit stunden liege ich wach und kann nicht schlafen, drehe mich von einer Seite auf die andere. Mein Display erhellt und ich sehe drauf. „Bist du noch wach?“
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Wenn das Leben dir Zitronen gibt
RomanceJamie und Juna. Zwei Menschen aus verschiedenen Welten. Juna schreibt eigentlich nur eine Nachricht an ihren verstorbenen Vater, die jedoch an Jamie geleitet wird. Sie kommen in Gespräch und zwischen ihnen entsteht eine besondere Freundschaft. Oder...