Klartext reden

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18. Klartext reden

Jamie

Ich bin kaputt und müde, als wir am späten Abend zuhause ankommen. Jessica hat uns abgesetzt und ich mache als erstes die Mädchen fertig fürs Bett, werfe dann das bisschen Wäsche in die Waschmaschine, was ich noch habe. Das meiste hat Juna schon gewaschen.
Erst als die Mädchen schlafen, kommt Millie. Wir haben gesagt, dass es besser ist, wenn nur wir zwei erstmal in Ruhe reden können. Den Mädchen habe ich noch nichts darüber gesagt, dass ihre Mutter wieder da ist. Sie wären sonst nicht ruhig zu kriegen.
Als es klopft, öffne ich mit zittrigen Fingern die Haustür. Kaum habe ich die Haustür geöffnet, strömt mir ihr unvergleichlicher Geruch entgehen, den ich immer so geliebt habe. Sie sieht wie immer bildschön aus, aber ich kann sehen, dass sie dünner geworden ist. „Hi“, sagt sie zögernd und sanft lächelnd. „Hi“, erwidere ich atemlos, nicht in der Lage, mich zu rühren. Meine Gefühle fahren Achterbahn und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Einerseits will ich sie einfach nur in meine Arme ziehen, sie halten und küssen, und andererseits, ist mir ihr bloßer Anblick zu viel.
Ich bitte Sie hinein und nehme ihr die Tasche ab, helfe ihr dann aus der Jacke. Dann umarmen wir uns. Ich schlinge meine Arme um sie, schließe die Augen und atme tief ihren Millie Geruch ein.
„Du hast mir gefehlt“, wispert sie und ich schlucke. „Du mir auch“, gebe ich zu. Und wie sie mir gefehlt hat. Ich löse mich von ihr und sie schenkt mir ein sanftes Lächeln. „Schön hast dus hier“, merkt sie an, als sie sich umsieht und ich zucke mit den Achseln. „Mag sein“, murmle ich und ihr Blick wird traurig.
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen“, entscheide ich und zeige ihr die Richtung. Sie setzt sich und ich hole zwei Gläser und eine Flasche Wasser. Ich schenke uns ein und setze mich dann zu ihr. Jedoch mit etwas Abstand, denn wir sollten reden. „Wie war dein Urlaub mit den Kindern?“ will sie mit Small Talk anfangen, aber danach ist mir nicht. „Sag mir, warum du gegangen bist“, verlange ich und Millie sieht auf ihre Hände, knetet sie, wie sie es immer tut, senn sie nervös ist. „Jamie…“ beginnt sie und ich weiß, sie versucht sich rauszureden. Ich kenne sie und ihre Körpersprache sehr gut. Wir sind seit 12 Jahren ein Paar. Ich kann in ihr lesen, wie in einem offenen Buch. „Sag es mir“, verlange ich und sie seufzt. „Du… hast dich verändert“, sagt sie schließlich. „Verändert? Geht es etwas präziser?“
„Na, als wir aus Australien wiedergekommen sind. Du wolltest doch kaum noch raus…“ Ich muss auflachen. „Es war Pandemiezeit. NIEMAND konnte raus“, erinnere ich sie. „Ich habe mich so eingeengt gefühlt. Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen“, versucht sie es, doch das macht es nur noch schlimmer. „Und deswegen verlässt du uns? Deine Kinder? Ohne ein Wort? Ohne vorher das Gespräch gesucht zu haben? Sorry Millie, aber dafür habe ich keinerlei Verständnis“, sage ich verachtend. „Ich wusste, du verstehst es nicht“, schnauft sie.
„Nein. Tu ich nicht! Wie denn auch?“ fahre ich sie an und habe Mühe, leise genug zu sein, um nicht die Kinder zu wecken. Sie wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln.
„Amelia. Jetzt sag mir bitte die Wahrheit“, bitte ich sie nun versöhnlich und lege meine Hand auf ihre. Sie hebt den Blick und als ihre braunen Augen auf meine treffen, versetzt es mir einen Stich. „Ich … hatte Depressionen“, sagt sie und ich blinzle verwirrt. „Ich habe es immer vor euch verstecken können, aber ich konnte nicht mehr. Es wurde alles zu viel. Die Pandemie, das Eingepferchtsein. Als wir in Australien waren, dachte ich, es geht aufwärts. Aber dann kam Jims Tod, und als wir wieder zurück waren, wurde es nur noch schlimmer. Ich hatte Gedanken. Üble Gedanken, Jamie, die ich nicht mal wage auszusprechen. Das konnte ich dir und den Mädchen nicht antun. Als die Reisebedingungen gelockert wurden, musste ich weg. Ich weiß nicht, was ich sonst gemacht hätte, Jamie…“ sagt sie mit brüchiger Stimme und ich schlucke. „Ich hätte mir gewünscht, dass du mit mir darüber geredet hättest“, sage ich leise. „Ich weiß, aber du warst doch selbst so unglaublich traurig. Die Mädchen haben dir Kraft gegeben, das habe ich gesehen. Deshalb habe ich sie bei dir gelassen…“ erklärt sie und ich sehe neue Tränen in ihren Augen
Ich blinzle auch meine weg. Erst liegt nur ihre Hand auf meiner Schulter, dann der Arm und dann liegt sie in meinen Armen. Wir beide liegen uns in den Armen und weinen. Ich bin verletzt, dass sie nichts gesagt hat. Aber ein kleiner Teil in mir kann sie verstehen. Sie wollte unsere Kinder nicht in Gefahr bringen. Sie musste gehen. Wenn sie doch nur etwas gesagt hätte...
Ich hätte sie aufgehalten….
„Wo bist du gewesen?“ frage ich sie und sie löst die Umarmung, wischt sich über die Augen. „Die ersten paar Monate bin ich umher gereist. Hauptsächlich in Südamerika. Habe soziale Projekte begleitet in der Hoffnung, dass es mich erfüllen würde. Aber das tat es nicht. Es hat sich gut angefühlt, doch es stillte die Trauer in mir nicht. Es wurde sogar immer schlimmer. Und bevor ich etwas wirklich Dummes anstelle, habe ich mich einweisen lassen. Ich war über ein halbes Jahr in einer psychatrischen Einrichtung in Californien.“, gibt sie schließlich zu und ich bin sprachlos. Ich drücke ihre Hand. „Jamie, ich liebe dich. Ich habe es immer getan. Ich weiß, ich habe dich sehr verletzt , aber ich musste es tun. Für uns alle…“ Sanft legt sie ihre Hand an meine Wange und ihr Blick ist unendlich weich und voller Liebe. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf ihren Geruch. Er hat mich immer beruhigt. „Ich liebe dich Jamie“, wiederholt sie und ich lege meine Hand auf ihre, schaue sie an. „Und ich liebe dich“, erwidere ich. Denn so ist es. Ob es für einen Neuanfang reicht, weiß ich nicht, aber dass die Gefühle noch immer da sind, kann ich nicht verleugnen. „Bitte. Lass uns von Neuen anfangen. Ich will bei dir und den Mädchen sein. Mehr brauche ich zum Leben nicht“, sagt sie sanft, doch bevor ich mich darauf einlassen kann, muss ich etwas wissen. „Hast du deine Depressionen überwunden?“ will ich wissen, wohlwissend, dass man sie wohl nicht so einfach überwinden kann. „Ich weiß, damit umzugehen. Habe gelernt, damit zu leben und mir, trotz allem, zu erlauben, glücklich zu sein“, sagt sie sanft. Trotz allem…. Was das bedeutet wage ich nicht zu fragen. Aber das hat Zeit. Wir haben noch so viel Zeit über Dinge zu sprechen. „Verspricht mir, dass du mit mir redest,“ bitte ich sie. „Über alles. Jederzeit.“ Sie lächelt sanft und nickt. „Versprochen“, sagt sie und für den Moment genügt es mir. Ich ziehe sie in meine Arme und halte sie. Ich will ihr Halt geben, für sie da sein. Ich weiß, es wird ein langer, steiniger Weg für uns. Aber genauso weiß ich, dass wir es schaffen können. Sie ist meine Familie.

Juna

Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt Becki neben mir und hat den Arm um mich liegen. Ich bin froh, dass sie da ist. Und ich bin froh, dass sie gestern Abend hier war. Ich hatte allein sein wollen, aber Becki wusste schon immer besser als ich, was ich brauche.
Ich rege mich und erhebe mich langsam. Mein Schädel ist kurz vorm Platzen. Verdammter Whisky. Verdammter Jamie.
Ich stehe vorsichtig auf und gehe ins Bad, klatsche mir altes Wasser ins Gesicht und putze meine Zähne. Ich muss diesen ekelhaften Geschmack loswerden.
Die Dusche sieht einladend aus, also ziehe ich mich aus und steige hinein. Als das warme Wasser auf mich niederprasselt, entspanne ich etwas. Aber nur, bis ich die Augen schließe und Bilder vor mein inneres Auge schießen. Bilder von mir und Jamie, unter dieser Dusche. Seine Hände, die mich streicheln, Lippen, die mich küssen. Meine Schultern, meinen Hals. Meine Lippen und meine Brüste. Und dann, wie er in die Knie geht und mir einen köstlichen Orgasmus schenkt. Ich fluche und schlage mit der flachen Hand gegen die Duschwand.
Das zwischen uns war nichts Oberflächliches. Das kann nicht einfach Sex gewesen sein. Es ging tiefer. Das muss doch auch er gespürt haben. Da ging es um so viel mehr.
Da ging es um Trost, um Verständnis. Leidenschaft und Begehren. Wir haben einander Kraft gegeben, Hoffnung…. Und nun ist er weg. Zurück in sein altes Leben und ich hoffe, er wird glücklich. Denn das ist es, was ich mir für ihn und seine Mädchen wünsche. Und was kann einen glücklicher machen, als die eigene, glückliche Familie.
Es ist richtig so. Ich werde darüber hinweg kommen.
Ich trockne mich ab, ziehe mir Jogginghose und Shirt über und gehe nach Unten. Becki sitzt bereits am Küchentresen. „Guten Morgen“, sagt sie liebevoll und ich drücke ihr einen Kuss an die Wange. „Guten Morgen“, erwidere ich und lasse mir einen Kaffee durchlaufen. „Wie geht es deinem Kopf?“ fragt sie. „Es geht“, murmle ich. „Und wie geht es dir?“ will sie wissen und ich seufze. „Ich komme klar. Das Leben geht weiter. War ja nicht so, als wenn wir eine Beziehung geführt haben. Es waren nur ein paar Tage“, winke ich ab.  „Ein paar sehr intensive Tage“, ergänzt sie. „Das spielt keine Rolle. Er ist zuhause bei seiner Frau, dort wo er hingehört“, stelle ich klar und setze mich zu ihr, trinke einen Schluck Kaffee. „Und wenn nicht?“ stellt sie mir die Frage. „Becki bitte. Streu nicht noch Salz in die Wunde. Das mit uns hätte doch eh nie geklappt. Ich lebe hier, er in England. Wir führen grundverschiedene Leben…“ versuche ich mir einzureden, doch insgeheim ist es mein sehnlichster Wunsch, dass wir einen Weg finden würden. Aber mehr als mein Wunsch ist es nicht. Ich kann den Tatsachen ins Auge sehen. Ich hatte eine wundervolle Zeit mit Jamie und ich bin ihm dankbar für alles. Er hat mir das Gefühl gegeben, sexy zu sein.
Becki legt ihre Hand auf meine. „Es findet zusammen, was zusammen gehört“, sagt sie und lächelt aufmunternd. Ich verdrehe die Augen. „Ja und das sind nicht Jamie und ich. Er gehört nach England und in die Arme seiner Ehefrau. Ich will einen Haken hinter die Geschichte machen. Ich hatte meinen schwachen Moment und habe mich nun wieder im Griff. Ab Montag werde ich wieder arbeiten gehen und dann beginnt der Alltag wieder. Und in ein paar Wochen wird mir alles nur wie ein schöner Traum vorkommen“, mache ich ihr klar und weiß, dass ich mir selbst vermutlich nur etwas vormache. Aber ich will nicht die ganze Zeit hier rumsitzen und etwas hinterherheulen, was eh keine Zukunft hätte. Und irgendwann werden die Erinnerungen nicht mehr so sehr weh tun und ich werde dankbar sein, dass ich meine Zeit mit ihm hatte.
Wenn das mit ihm und Amelia gut geht, so weiß ich, dass er und ich vermutlich nicht mehr oft schreiben werden. Und irgendwann vermutlich gar nicht mehr. Aber das ist okay. Gestern Abend habe ich eine kurze Nachricht von ihm bekommen, dass er gut angekommen sei. Danach kam nichts mehr. Vermutlich hat er stundenlang mit seiner Frau geredet. Ich schnaufe und trinke noch einen Schluck Kaffee. Ich will jetzt nicht mehr an ihn denken. „Können wir heute Abend was unternehmen? Vielleicht den Kinoabend nachholen? Ich mag nicht alleine sein“, bitte ich meine beste Freundin. Liva kann sicher noch eine weitere Nackt bei Michelle bleiben. „Ich muss nachher mal nach Hause, aber heute Abend gehöre ich ganz dir“, verspricht sie mir und ich lehne mich an sie und bin dankbar, dass ich sie habe.

Wenn das Leben dir Zitronen gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt