30. Pechvogel Juna
Juna
Belfast ist toll. Noch viel schöner als in meiner Erinnerung. So vieles hat mir Jamie gezeigt, ist mit mir quer durch die Stadt gefahren. Nur zum Friedhof bekomme ich ihn nicht. Er schiebt es immer auf später. Das ist nicht gut. Er muss da hin. Ich weiß, wie schwer dieser Gang ist und für ihn muss es um ein vielfaches Schlimmer sein, weil er bei der Beerdigung seines Vaters nicht dabei dein konnte. Aber umso wichtiger ist es, dass er dort hingeht. Er kämpft viel zu sehr mit sich. Das verdeutlichen mir gewisse Situationen, vor allem innerhalb der Familie. Im Haus fühlt er sich wohl, vermeidet es jedoch, ins alte Schlafzimmer seines Vaters zu gehen. Er soll sich etwas von seinem Vater mit nach Hause nehmen, etwas persönliches, als Erinnerung, sagen seine Schwestern, aber er kann dieses Zimmer nicht betreten.
Ich brauche dringend eine Pause. Meine Handballen tun schon weh vom Krückenlaufen. Jamie und ich sie die Peacewall entlanggelaufen und er hat mir dir Stelle gezeigt, wo Jim sein Bild gemalt hat. Das Bild ist in natura noch viel beeindruckender. Genau wie all die anderen Bilder auf den Mauern. Der Gedanke an die Geschichte dahinter bereitet mir noch jetzt eine Gänsehaut.
Jamie hält mir die Tür zum Restaurant auf, welches er angesteuert hat und ich humple hindurch, warte bis Jamie mich zu einem Tisch führt.
Viel Hunger habe ich nicht, weshalb ich mir einfach einen Salat mit geräucherter Käse bestelle.Jamie
Ich weiß, ich sollte endlich zum Grab meines Vaters gehen. Aber ich bringe es einfach nicht über mich. Ich weiß nicht, wie es mich umhauen wird, wenn ich es endgültig sehe. Ich habe Fotos gesehen. Vom fertigen Grabstein mit den Namen meiner Mom und nun auch meine Dads. Aber wenn ich es wahrhaftig vor mir haben werde, dann… wird es wahr. Bisher kann ich mich gekonnt davor drücken, aber ich weiß, Juna wird nicht locker lassen. Und noch mehr weiß ich, dass sie Recht hat. Ich muss es hinter mich bringen, damit ich damit abschließen kann. Aber nicht heute.
Ich habe Juna die Peacewall gezeigt, auch das Bild meines Vaters. Sie war sehr beeindruckt und die meiste Zeit über sehr still. Und wenn sie was gesagt hat, waren es Fragen über die Zeit, als es noch unruhig war. Vor dem Frieden. Für mich war es normal. Für sie jedoch absolut unvorstellbar und ich bin froh darüber. Auch dass meine Mädchen so etwas nicht erleben müssen. Irgendwelche Drohungen oder Evakuierungen waren für mich als Kind oder Jugendlicher normal.
Ich gönne Juna eine Pause und uns etwas zu Essen. Ich bestelle mir Pasta und Juna einen Salat. „Ich würde mit dir gern morgen einen Ausflug machen“, sage ich zu ihr, nachdem wir unsere Getränke bekommen haben. Sie nippt an ihrem Wasser. „Du machst doch jeden Tag Ausflüge mit mir“, lächelt sie. „Ja, schon, aber diesmal würde ich dir gern etwas außerhalb von Belfast zeigen“, erkläre ich. Ich weiß, sie vermisst Schottland sehr. Ich kann ihr für morgen zwar nicht Schottland bieten, aber einen wunderbaren Ort, der sie sehr daran erinnern wird. Geländetechnisch ist Irland Schottland ziemlich ähnlich. Das ist ein Vorteil. Belfast ist groß und belebt und dort, wo ich sie morgen hinfahren möchte, bekommt sie ganz viel Natur, Klippen und Meer.
„Schön. Ich freu mich“, lächelt sie und ich lege meine Hand auf ihre.
Wir bekommen unser Essen und nach kurzer Zeit beginnt Juna, sich zu räuspen. „Alles okay?“ frage ich und sie nimmt sich ihr Wasser, trinkt ein paar Schlucke, doch das Räuspern ändert sich ins Husten. „Ich bin mir nicht sicher“, bringt sie heraus und hustet noch mehr. „Ich bekomme so schlecht Luft“, krächzt sie. Du Liebe Güte. Eine allergische Reaktion? „Hast du irgendwelche Allergien?“ frage ich sie arlamiert, doch sie schüttelt mit den Kopf. „Glaub nicht….“
Sie japst nach Luft und mir ist klar, dass wir Hilfe brauchen. „Ich brauche einen Arzt!“ rufe ich, und eile um den Tisch herum, ergreife Junas Hände, als sie immer panischer wird. „Shhh. Ganz ruhig. Versuche, dich zu beruhigen. Hilfe ist unterwegs“, rede ich ihr gut zu. Ich versuche ruhig zu bleiben, um sie nicht noch mehr in Panik zu versetzen, doch innerlich bin ich kurz davor, selbst Panik zu schieben.
Herrgottnochmal, wie lange dauert das denn? Ihre Haut im Gesicht ist rot und ihre Lippen sind geschwollen. Für mich steht außer Frage, dass es eine allergische Reaktion ist. Ich frage den Kellner, der mit der Ambulanz telefoniert hat, was in dem Salat ist. „Nur Blattsalate, Tomaten, Gurken, Pinienkerne und geräucherter Ziegenkäse“, erklärt er. Das sagt er auch der Ambulanz, als diese endlich eintrifft. Junas Atem ist nur noch ein Pfeifen und angsterfüllt sieht sie mich aus ihrem geschwollenen Gesicht an. Sie bekommt Sauerstoff, außerdem direkt eine Kortisonspritze, die ihr hoffentlich schnell hilft. Ich steige mit in den Krankenwagen, der sie ins General Holspital fährt. Dort, wo Dad jahrelang gearbeitet hat. Juna umklammert meine Hand, die ich sanft streichle. Langsam bekommt sie etwas besser Luft, doch ihr Gesicht ist noch immer geschwollen und rot.
Im Krankenhaus wird sie untersucht und ich muss auf dem Flur warten.
Sie hat mir einen riesen Schrecken eingejagt.Als ich endlich zu ihr darf, hat sie die Augen geschlossen und so leise wie möglich setze ich mich zu ihr, um sie nicht zu wecken. Dennoch öffnet sie müde ihre Augen. Ihr Gesicht ist nicht mehr ganz so geschwollen und die Röte geht auch zurück. „Wie geht es dir?“ frage ich sanft und streiche über ihre Wange. „Geht“, murmelt sie heißer. Sie bekommt noch Sauerstoff. „Was hat der Arzt gesagt?“ erkundige ich mich. „Er vermutet den Ziegenkäse. Pinienkerne hab ich schon öfter gegessen und nie darauf reagiert.“ Ich nicke. „Dann sollten wir darauf achten.“ Sie nickt und schließt Ihre Augen, schmiegt sich in meine Hand. Ich hauche ihr einen Kuss an die Stirn. „Vielleicht kann ich nachher schon wieder gehen“, sagt sie. „Das sehen wir dann. Ruh dich erst mal aus“ bitte ich sie. „Bleibst du?“, bittet sie mich. „Ich bewege mich nicht vom Fleck“, verspreche ich ihr lächelnd und damit gibt sie sich zufrieden. Ich bin äußerst erleichtert, dass es ihr besser geht. Das hätte auch schief gehen können. Zum Glück war der Notarzt schnell da.
Juna
Ich habe ein paar Stunden geschlafen und darf dann tatsächlich etwas später das Krankenhaus verlassen. Die Haut in meinem Gesicht spannt noch, aber Jamie versichert mir, dass man kaum noch die Schwellung sehen kann. Was für ein Chaos. Sowas habe ich noch nie erlebt. Weder bei jemand Anderes und schon gar nicht bei mir Selbst. Aber ich bin mit einem Schrecken davon gekommen. Man hat mir noch ein Kortisonspray mitgegeben, falls ich wieder etwas schlechter Luft kriegen sollte und außerdem soll ich mir für heute Ruhe gönnen. Das sollte ich hinkriegen, denn ich habe nicht vor, noch einen Marathon zu laufen. Ich könnte ehrlich gesagt, im Stehen schlafen. Jamie hatte ziemliche Angst um mich, dass habe ich ihm angesehen. Seine Schwestern waren auch erschrocken und als wir zurück zum Haus der Dornans kommen, werde ich gleich umsorgt und liebevoll betüdelt. Selbst Jamies älteste Schwester Liesa sieht mich besorgt an und bringt mir einen neuen Salbeitee, der meinen Hals beruhigt. Ich mag eigentlich keinen Salbeitee, doch ich trinke ihn brav, weil ich merke, wie gut er mir tut.
Das Abendessen lasse ich ausfallen, denn der Appetit für heute ist mir vergangen. Jamie heißt es nicht gut, aber ich bekomme keinen Bissen hinunter. Da trinke ich lieber noch einen oder zwei Salbeitees.
Ich gehe früh schlafen, denn ich bin wirklich erledigt. Jamie bleibt noch etwas auf. Aber das ist Okay. Später bekomme ich mit, wie er sich zu mir ins Bett legt und seinen Arm um mich legt. Er haucht mir einen Kuss in den Nacken und ich bekomme eine wohlige Gänsehaut. Ich drehe mich zu ihm um und vergrabe mein Gesicht an seinen Hals. „Bitte tu so Etwas nie wieder“, bittet er mich sanft. „Versprochen“, murmle ich müde und hauche ihm einen Kuss auf die Lippen. „Gute Nacht“, wünsch ich ihm und er zieht mich etwas näher an sich. „Gute Nacht.“
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Wenn das Leben dir Zitronen gibt
RomanceJamie und Juna. Zwei Menschen aus verschiedenen Welten. Juna schreibt eigentlich nur eine Nachricht an ihren verstorbenen Vater, die jedoch an Jamie geleitet wird. Sie kommen in Gespräch und zwischen ihnen entsteht eine besondere Freundschaft. Oder...