Eine Welt bricht zusammen

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35. Eine Welt bricht zusammen

Juna

die Krücken bin ich endlich los und ich kann mich endlich wieder frei bewegen. Nur diese Schiene muss ich noch etwa zwei Wochen tragen. Passend zum Karneval dürfte ich sie los sein. Ob ich Jamie überreden kann, mich dorthin zu begleiten? Er ist ein Kerl, der jeden Blödsinn mitmacht, deshalb bin ich überzeugt, er wird seinen Spaß haben. Nur ob er Zeit hat, ist eine andere Frage. Für die Mädchen wäre es sicher auch ganz toll, aber das wird leider mit der Schule kollidieren. Zumindest Montags. Ich werde Jamie später einfach fragen, wenn wir telefonieren.
Er fehlt mir. Seine Wärme, sein Geruch. Alles. Das Haus ist viel zu leer und ruhig oder ihn und seine Mädchen.

Ich bin grad einkaufen, als ich einen Anruf bekomme. Als ich aufs Display schaue, erschrecke ich. Es ist Livas Schule. Ist was passiert? Hat sie etwas angestellt? Normalerweise telefoniere ich im Supermarkt nicht, doch das scheint wichtig zu sein. Ich nehme das Gespräch an und melde mich. „Guten Morgen Frau Fraser. Hier ist Direktor Vogel“, meldet sich der Direktor. Es muss was gravierendes sein, wenn er selbst anruft. „Herr Vogel. Guten Morgen. Ist Etwas mit Liva?“ frage ich und mein Herz klopft bis zum Hals. „Liva hatte einen Streit mit mehreren Schülern. Sie ist beleidigt und angegangen worden“ erklärt er. Oh je. „Warum?“ möchte ich wissen, denn eigentlich ist Liva in dieser Schule kein Mobbingopfer. „Aufgrund ihrer Transsexualität.“ Mir sackt das Herz abermals in die Hose. Nur die Lehrer und die Klassenkameraden wissen davon und der Zusammenhalt in der Klasse ist groß. „Ein paar ältere Mitschüler haben es wohl herausgefunden und sie damit böse konfrontiert“, sagt er und ich seufze. „Wie geht es meinem Kind?“ will ich wissen. „Sie ist traurig und wütend. Es wäre schön, wenn sie herkommen könnten, um sie zu trösten und dann erkläre ich ihnen alles genauer“, bittet er mich und ich mache mich mit meinem halben Einkauf auf den Weg zur Kasse, bezahle und fahre auf direktem Weg zur Schule. Ich bekomme eine Nachricht von Jamie, der mir einen guten Morgen wünscht und fragt, wie es mir geht. Ich schildere ihm, dass Liva Ärger in der Schule hat und verspreche ihm, es ihm später zu erklären.

Mit einem mulmiges Gefühl betrete ich das Schulgebäude und gehe direkt in den Verwaltungstrackt, wo ich bereits erwartet werde. „Frau Fraser, schön, dass sie es so schnell einrichten konnten“, begrüßt mich Herr Vogel. „Natürlich“, erwidere ich und gehe sofort zu meinem Mädchen, die traurig auf einem Stuhl vorm Schreibtisch sitzt. „Was ist passiert, Spatz?“ frage ich sanft, setze mich zu ihr und ziehe sie an mich. Augenblicklich schluchzt sie auf und es tut mir im Herzen weh, dass sie solchen Kummer hat. „Die ganze Schule weiß es jetzt“ weint sie und ich streiche ihr über ihr blondes Haar. „Woher?“ frage ich sie. „Aus dem Internet. Sie haben Jamie gesehen und einige haben ihn erkannt, als er hier war“, erklärt sie und mir bleibt die Luft weg. Internet? Jamie? Etwa der Artikel? Ich sehe zu Herrn Vogt und er schiebt mir seine Ipad hin, auf dem ein Artikel über Jamie steht. Und über mich. Und Liva. Ihr Name wird nicht erwähnt, aber die konnten wohl eins und eins zusammenzählen. Verdammt. Und Jamie hat mir versichert, dass ich mir keine Sorgen machen müsste. Was bitte hat er geglaubt? Dass auf dem Land nicht getratscht wird, wie in einer Großstadt? Hier kennt beinahe jeder Jeden. Natürlich sehen sie Zusammenhänge. Wut macht sich in mir breit und im Augenblick wünsche ich Jamie zum Teufel, aber ich muss ruhig bleiben. Für Liva. „Spatz, dass beruhigt sich sicher wieder“, tröste ich sie. „Solch Beschimpfungen werde ich auf dieser Schule natürlich nicht dulden und die Kids werden die Konsequenzen dafür tragen müssen. Aber im Augenblick ist es natürlich am Wichtigsten, es nicht eskalieren zu lassen, oder gar, dass es weitergeht. Ich werde mir etwas einfallen lassen, da gebe ich Ihnen mein Wort“, verspricht Herr Vogel und ich nicke. „Ich denke, sie sollten Liva für heute mit nach Hause nehmen.“ „Aber sie ist nicht suspendiert oder?“ frage ich etwas erschrocken. „Nein, nein. Natürlich nicht. Die Kids, die Liva beleidigt haben, werden die nächsten drei Tage zuhause bleiben. Liva hat nichts falsch gemacht. Ihre Klasse hat hinter ihr gestanden und haben sie in Schutz genommen. Wir werden eine Lösung finden“, versichert er mir nochmals und dann lässt er mich und Liva gehen.
Zuhause angekommen, geht Liva auf ihr Zimmer und ich suche im Internet den Artikel heraus, schicke den Link zu Jamie. „Mir keine Sorgen machen müssen sieht für mich anders aus! Liva ist beschimpft und beleidigt worden! Ich bin stinkwütend!!!!“ schreibe ich dazu und sende es ab.
Wenig später klingelt mein Handy, aber ich ignoriere es. Ich will im Moment nicht mit Jamie reden. Dafür bin ich zu wütend. Warum zum Teufel hat er nichts gesagt? Verdammt, wie habe ich glauben können, dass Liva weiter ihr Leben ruhig leben kann, wenn ich mit einem Mann zusammen bin, den die ganze Welt kennt? Wie habe ich nur so dumm sein können?

Jamie

Vor ein paar Tagen hat der Dreh für „A haunting in Venice“ begonnen und ich bin dankbar, endlich wieder arbeiten zu können. Ich komme gerade aus der Maske, als Juna mir diese Nachricht geschickt hat. Verdammter Mist. Ich habe nicht gedacht, dass es solche Ausmaße annimmt. Ich versuche, Juna zu erreichen, doch sie geht nicht ran. Ignoriert sie mich? Vermutlich, wenn sie so wütend ist. Ich versuche es nochmal… Und nochmal. Nichts. Immer bekomme ich die Mailbox zu packen. Ich seufze und würde es am liebsten so lange versuchen, bis sie endlich rangeht, aber ich habe keine Zeit. Man ruft schon nach mir. Mist, verdammter! „Juna, rede mit mir! Es tut mir leid, was passiert ist. Ich habe es unterschätzt. Lass uns bitte darüber reden. Ich liebe dich“, spreche ich ihr eine Nachricht und sende sie ab. Dann muss ich ans Set und drehen.

Meine Konzentration ist für Arsch und ständig habe ich Texthänger. „Jamie, was ist los mit dir?“ fragt mich Ken und ich schnaufe. „Tut mir leid, nicht mein Tag. Ich reiß mich zusammen, versprochen“, versichere ich ihm und gehe nochmal in mich, atme tief durch und rufe mir den Text auf. Ich kann ihn, das weiß ich. Er ist in meinem Kopf. Irgendwo zwischen den Sorgen um Juna und Liva. Ich versuche wenigstens für den Moment die Sorge beiseite zu schieben, wenigstens ein paar Stunden, doch es gelingt mir nicht mal für 10 Minuten. „Cut!“ ruft Ken. „20 Minuten Pause. Jamie, kann ich dich kurz sprechen?“ bittet mich Ken und Ich seufze, gehe zu ihm. Wir setzen uns in eine ruhige Ecke. „Ist was mit deinen Kindern?“ fragt er mich. „Du siehst besorgt aus.“ Tja, das ist wohl offensichtlich. Soviel dazu, dass ich ein guter Schauspieler bin. „Nein. Denen geht es prima“ winke ich ab.  „Was ist dann los? So unkonzentriert und ruhig kenne ich dich gar nicht“, meint er und ich seufze erneut.  „Tut mir leid, ich versuche wirklich, mich zu konzentrieren…“ „…aber?“ hakt er nach. „Es geht um meine Freundin. Nein, eigentlich um ihre Tochter“, rücke ich schließlich mit der Sprache raus und Ken sieht mich fragend an. „Es gab einen Artikel. Naja, mittlerweile wohl mehrere. Und die berichten von meiner Freundin und ihrer Tochter. Sie ist transsexuell und nun haben wohl die Kids in ihrer neuen Schule Wind davon bekommen und haben sie beschimpft. Juna ist sticksauer auf mich, weil ich nichts gesagt habe. Zu Recht, aber ich dachte, niemand würde Schlüsse daraus ziehen und gleich checken, dass es sich um Juna und Liva dreht… Tja, und nun ignoriert Juna meine Anrufe.“ erzähle ich und Ken schaut mich mitleidig an. „Da hast du wohl echt Mist gebaut.“ „Allerdings“, murmle ich. „Kein Wunder, dass du so durch den Wind bist. Versuch nochmal, sie zu erreichen und rede mit ihr. Vielleicht geht es dir dann besser, wenn nicht, dann kommen wir den restlichen Tag auch ohne dich klar.“ Ich bin baff. „Ernsthaft?“ frage ich nach. „Ja, solange du danach wieder Gas gibst….“ „Du hast mein Wort“, versichere ich ihm dankbar und gehe in meine Garderobe, versuche nochmal, Juna zu erreichen. Ich versuche es ein paar mal hintereinander, bis sie schließlich rangeht, mir ein „jetzt nicht!“ entgegen pfeffert und wieder auflegt. Das war eindeutig. Na herzlichen Dank. Sie kocht regelrecht vor Wut und ich habe keine Ahnung, wie ich nun reagieren soll. Auf jeden Fall werde ich ihr jetzt erst mal ein bisschen Raum geben. Vermutlich würde es jetzt eh eskalieren.  Ich hoffe, das rängt sich irgendwie wieder ein. Verdammt, keinen Monat zusammen und schon fliegen die Fetzen.

Es hat keinen Zweck. Meine Konzentration ist wirklich unterirdisch, also schickt mich Ken nach Hause. Ich bin sauer. Vor allem auf mich selbst, aber auch ein bisschen auf Juna, weil sie mich gleich so angeblafftt hat. Mir ist klar, dass ich es selbst verzapft habe, aber… ja keine Ahnung. Meine Laune ist im Keller und ich muss mich abreagieren, bevor die Mädchen von der Schule kommen.
Sport. Sport ist immer gut, um Frust abzubauen.
Ich dresche regelrecht auf den Bockssack ein, so dass mir die Hände schmerzen. Zuvor war ich auf dem Ergometer und auf dem Laufband. Es ist doch zum kotzen. Nichts lässt mich den Ärger mit Juna vergessen. Natürlich nicht.
Ich hab echt Schiss, dass sie Schluss macht. Wäre ihr nicht zu verdenken. Scheiße, Dornan, du hast es echt verkackt.
Ich gehe duschen und fahre schließlich los, die Mädchen holen. Sie sind ganz überrascht, dass nicht ihre Tante sie holt, denn eigentlich war das so geplant. Aber da ich ja schon zuhause bin...
Ich mache uns das restliche Essen von gestern Abend warm und helfe dann Elva bei den Hausaufgaben. Ich befürchte, ein Matheass wird sie nie. Naja, ich hatte auch hin und wieder meine Schwierigkeiten in Mathe, aber ich hab es irgendwie hinbekommen.

Am Abend habe ich noch immer nichts von Juna gehört und so langsam bekomme ich wirklich Muffensausen. Wird sie überhaupt noch mit mir reden? Es ist doch zum Mäusemelken. Ich widerstehe dem Drang, sie nochmal anzurufen, denn ich möchte nicht, dass meine Mädchen Wind von unserem Ärger bekommen, also warte ich, bis die Mädchen Bett sind.
Gerade, als ich sie erneut anrufen will, bekomme ich eine Nachricht von ihr. „Hast du Zeit zu telefonieren?“ fragt sie mich und ohne zu antworten, rufe ich sie an.

Wenn das Leben dir Zitronen gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt