Kapitel 15

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Immernoch zitterte ich am ganzen Leib und traute mich keines Weges, den Lid meines Auges von dem anderen zu trennen. Das Flüstern, was meinen Mund verließ wurde immer langsamer und leiser als zuvor. Die Gebete zu Gott erfüllten sich nicht. Meine Konzentration war verschwunden.
Durch die Tür schloss ich meine Augen fester, als ich den Schlüssel hörte, der sich zweimal drehte und ich etwas Erleichterung in mir spürte.
"Özlem."
War das nicht seine Stimme? Erdems?
Er war hier sicherlich aus Neugier und Aylin steckte hundertprozentig mit ihm unter einer Decke, denn er würde niemals freiwillig hier hin kommen.
"Özlem, was ist das?"
Neugierig drehte ich meinen Kopf in seine Richtung, jedoch in meinen klitzekleinen Händen versteckt. Durch den kleinen Spalt, den ich mit meinen Zeige-und Mittelfinger gebildet hatte, blickte ich zu Erdem, der sich runterkniete und mir tausend Teile vor die Nase hielt.
Lass deine Tränen jetzt nicht ausbrechen.
Oftmals wiederholte ich diesen Satz im Kopf und versuchte ihm den Schmerz nicht zu zeigen. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich meine Hände von meinem Gesicht entfernt hatte, um das Bild zu betrachten.
Perplex nahm ich die Teile aus seiner Hand, kniete mich richtig hin und fing an, leise meine Tränen zu vergießen, da ich wieder rückfällig wurde und dieses Aushalten unmöglich war. Ich Versager.
"Hey, wein nicht. Pscht", flüsterte er und sah wie ich zu den kleinen Teilen.
"Hast du es zerrissen?"
Weinend nickte ich und versuchte ein richtiges Puzzle daraus zu machen, um das alte Bild wieder herzustellen, doch seufzte, als ich es zusammenlegte, es jedoch nicht passte. Ich saß etwas seitlich von Erdem und somit konnte ich nicht ganz sehen, was er tat, weil meine Haare mir den Blickwinkel klauten und somit die Sicht verdeckten. Ehrlich gesagt interessierte es mich nicht, dass ich vor ihm weinte, weil mir dieses Bild wichtiger als unnötige Gedanken waren. Und genau dann, als ich nicht einmal zwei Teile zusammen gepuzzelt bekam, schmiss ich alles mit voller Wucht zu Boden und lehnte mich an die Wand. Wiedereinmal vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen und weinte los. Mir war heute nur weinen zumute.
Erdems Sicht:
Lang betrachtete ich sie, wie sie konzentriert versuchte, das Bild zusammen zu flicken, doch bei jedem Versuch schlug sie fehl. Dauerhaft flossen ihr Tränen hinunter, doch trotzdessen gab sie nicht auf. Mir wurde bewusst, dass ihr das Bild sehr wichtig war, doch wieso hatte sie es zerrissen? Genau dann, als sie alles von sich schmiss und anfing zu schluchzen, wurde ich von meinem Herzen beauftragt, dem Mädchen zu helfen. Kurz atmete ich ein und aus, kniete mich mit einem Bein auf dem Boden und fing an das Bild zusammen zu puzzeln. Sie hatte es echt kleingeschreddert. Plötzlich streckte sie ihre Hand, nahm ein Stück vom Bild und legte es zu meinem, als ich nachdenklich zu Boden sah und das passende Teilchen nicht fand. Lächelnd rückte ich näher an Özlem. Zusammen widmeten wir uns dem Bild und fügten alle Teile zusammen.
"Schau, so schwer war es doch garnicht", sagte ich leise, sah zu ihr und musste schmunzeln, als sie nicht mehr weinte, sondern strahlte. Interessantes Mädchen.
Es fehlte nur noch Teserfilm, um alles zusammen zu kleben, dann wäre es fertig. Kaum zu glauben, aber Özlem lächelte auf dem Bild und mir wurde warm ums Herz. Sie sah so sorgenfrei, süß und hübsch mit diesem Lächeln aus. Zwar lächelte sie nicht allzu stark, doch allein, dass sie ihre Mundwinkel auf dem Bild hochgezogen hatte, brachte mich in großer Verwirrung.
"Ist das deine Familie?", fragte ich und sah erst zum Bild, dann zu ihr. Da war sie wieder, die emotionale Özlem. Beim Wort "Familie" füllten sich ihre Augen und sie drohte zu weinen.
"Nicht weinen", sprach ich vorsichtig, flehend und war kurz davor, ihre alten Tränen wegzuwischen.
Innerlich bedankte ich mich bei meinem Verstand, das er mich davon abgehalten hatte. Ich ließ es letztendlich auch sein. Ruhig nahmen wir das Bild unter die Lupe, als würde ein Bauarbeiterteam ein Haus bewundern, was sie in Monaten zusammen gebaut hatten. Dieses Bild stellte mir tausende von Fragen. Unauffällig huschten meine Blicke zu Özlem, die, nachdem sie ihre Tränen wegwusch, leicht über das Foto strich und wieder in ihrer Welt war und mich nicht mehr wahrnahm. Mit zerbrochenem Kopf kreuzte ich meine Arme vor die Brust und zog meine Augenbrauen zusammen.
Was hält sie auf, sich nicht zu ändern?
Konzentriert strich ich mir durch meinen Bart.
Sie war so kompliziert, dennoch interessant, ein Rätsel. So kompliziert, dass man für sie einen Beruf erschaffen könnte und sich jahrelang mit ihr beschäftigen könnte. So kompliziert, dass sie sich nicht öffnet und keinen Fremden an sich heranlässt. Aber wieso?
Fluchend blickte ich zur Tür, die so eben geöffnet wurde und mich dabei störte, Özlem in Betracht zu nehmen. Eine wütende Krankenschwester. Na wenn das nicht ein Fall für mich wäre.
"Lass mich raten, Özlem. Du hast wieder keine Tabletten genommen. Denn du solltest die vor einer Stunde einnehmen."
Aufrecht hinstellend spazierte ich wie gezielt zu der Krankenschwester und musterte sie selbstbewusst an.
"Sie, als Arbeiterin sollten ihren Beruf wie ein normaler Mensch ausführen, nicht andere Menschen wie Dreck behandeln", sprach ich zornig und spannte mich.
"Hören sie. Özlem ist hier nicht um Urlaub zu machen, sondern aus ihren Fehlern zu lernen."
"Welche Fehler? Kann sie etwas dafür, dass sie Sachen erlebt hat, die einem innerlich schmerzen?", fragte ich gereizt. "Andere dürfen freiwillig wann sie wollen diese Psychiatrie verlassen. Özlem tut alles, um sich hier länger aufzuhalten. Denken Sie nicht, dass dieses Verhalten bescheuert ist? Übertrieben, dass man trotz Zwang nicht lernt?"
"Sie ist nunmal kein Mädchen aus den Märchen. Sie runter zu ziehen bringt doch nichts. Wie soll man klarkommen, wenn man gezwungen wird in einem kleinen Zimmer zu wohnen und nichtmal Erlaubnis hat, nach draußen zu gehen? Das ist übertrieben!", argumentierte ich lauter.
"Würde sie ihre Tabletten nehmen, würde es ihr besser-
"Ach finden sie es spaßig, viele Tabletten zu nehmen?"
"Nein, aber-
"Verziehen sie sich, bevor ich zu ihrem Chef gehe und dafür sorge, dass ihre Ausbildung umsonst war. Wehe Özlem erzählt mir, dass sie sie beleidigt oder derart Ähnliches gemacht haben!", warnte ich sie und zeigte zuletzt mit meinem Finger Richtung Tür, um ihr ein Zeichen zu geben, diesen Raum zu verlassen, was sie auch tat.
Mit intensiven Blicken sah ich zu Özlem, die kraftlos ihre Tränen wegwusch und aufstehen wollte, da ihr dieser kleine Dialog zuviel war und sie mehr als verletzt von den Worten der Krankenschwester war. Leise wagte ich Schritte zu ihr und dachte nach, was ich jetzt tun soll.
Als sie es selbstständig hinbekommen hatte, sich aufrecht hinzustellen, ab und zu jedoch zu fallen drohte, verschwand sie im Bad und ließ mich allein. In dieser Zeit beschloss ich mir Klebeband zu besorgen und das Bild zusammen zu kleben, weshalb ich schnell zu einer anderen Krankenschwester lief, sie nett nach Klebeband fragte, sie es mir übergab und ich schnell in Özlems Zimmer lief. Sie war immernoch im Bad.
Mir machte es schon ein wenig Angst, doch ich flickte das Bild zusammen, um diese Gedanken loszuwerden und legte es auf die Kommode, neben Özlems Bett. Zwei Minuten wartete ich, doch meine schreiende Seele ließ mich nicht in Ruhe und so traute ich mich mit aller Mut gegen die Badezimmertür zu klopfen. In Zimmerlautstärke rief ich ihren Namen und wurde Minute zu Minute ungeduldiger.
Ich drohte ihr die Tür durchzubrechen, wenn sie die Tür nicht öffnet, doch ich hörte keinen Mucks. Kurz wiederholte ich mich, klopfte lauter und schrie mittlerweile nach ihr.
Verzweifelt gab ich auf und lief hin und her wie ein Idiot. Was sie wohl innen tat?
Wie als würde sie meine Gedanken lesen, öffnete sie die Tür und ließ mich erleichtert ausatmen. Oh Gott, was macht dieses Mädchen nur mit mir? Stumm stand sie an Türrahmen und hielt sich fest. Gesundheitlich ging es ihr grottenschlecht, weshalb ich ihr meine Hilfe anbot, ohne Interesse, ob sie wollte oder nicht.
Unsicher legte ich meine Hand auf ihrem Rücken und konnte deutlich das Anspannen ihrer Muskel spüren. Dazu nahm ich ihre kleine Hand und führte sie zum Bett, während sie beschämt zu Boden blickte, aber keine andere Wahl hatte, da man durch ihrer blassen Hautfarbe im Gesicht bemerken konnte, dass ihr Blutdruck, am besten ausgedrückt, im Arsch war. Sie hatte versucht, sich ein wenig zu lösen. Anscheinend war ich immernoch ein Fremder für sie, was solls.
Als sie es nach zwei Versuchen geschafft hatte, mit dem Hintern rückwärts auf das Bett zu plumsen, zog ich die Decke zu ihr und lächelte leicht, als sie zu mir sah.
Es verging eine halbe Stunde und sie sah pausenlos aus dem Fenster, als würde sie nach draußen wollen.
"Özlem, willst du raus?"
"Soll ich versuchen dich zu einem Spaziergang zu führen? Natürlich nur, wenn es dir wieder besser geht", fragte ich und lächelte mit hochgezogenen Augenbrauen schräg.
Erstaunt blickte sie zu mir und forderte mich schüchtern auf, dies zu wiederholen, da sie es nicht ganz verstanden hatte.
Mein Inneres bedrückte mich damit, sie frische Luft schnappen zu lassen, um eine stärkere Bindung zwischen uns aufzubauen und ihr Vertrauen zu gewinnen, auch wenn sie es nach einem Spaziergang nicht tun würde, doch sie wäre mir dankbar und müsste sich mir öffnen, um sich zu bedanken. Oder auch nicht.
"Soll ich mal die Krankenschwester fragen? Immerhin bin ich bei dir als Begleitperson da?", fragte ich unsicher.
Blitzartig blickte sie geschmeichelt zu mir und nickte. Wusste ich es doch. Auf sowas würde sie niemals verzichten. Sie hatte die Gelegenheit dazu bekommen.
"Komm", sagte ich und hielt ihr den Weg bereit, indem ich einen Schritt nach hinten machte. Ihr gelang es schwer zu gehen, was mir durchaus große Angst verbreitete und ich sicherheitshalber meine Hand wieder hinter ihrem Oberkörper hielt, doch diese automatisch auf ihrem Rücken rutschte, was sie ungemein störte. Fragend blickte sie mir in die Augen, doch ich sah kaltblütig nach vorn. Zusammen gingen wir seelenruhig zur Krankenschwester, die wir auf dem Weg im Flur trafen.
"Entschuldigen Sie? Könnte ich Özlem für einen kurzen Spaziergang mit nach draußen nehmen? Ich komme später nochmal vorbei, um alles mit Ihnen zu klären", sprach ich zu der blonden Frau vor mir.
"Ja, halten sie sich am besten im hinteren Bereich auf, sodass wir Sie im Auge haben", waren ihre letzten Worte, als ich leicht an Özlems Rücken drückte, um sie weiter zu führen.
Beschämt ging sie weiter und versuchte schneller voran zu kommen, um meine Hand loszuwerden, doch ich grinste und nervte sie weiter.
Mit voller Kraft öffnete sie die Tür, trat wie ein kleines Kind heraus und spazierte für sich allein, während ich sie lächelnd wie ein Vater beobachtete und bei diesen dummen Gedanken mir selbst eine reinhauen wollte. Ich wollte zu ihr. Mit diesen Gedanken näherte ich mich ihr und so spazierten wir nebeneinander den langen Weg entlang, der voller Blätter überfüllt war und einen herbstlichen Eindruck auf sich hatte.

ÖzlemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt