Kapitel 21

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Kurz biss ich in das Brot und schluckte es mithilfe eines Glas Wassers herunter. Ich hatte gewaltigen Hunger, weil ich meinen Magen in letzter Zeit sehr vernachlässigt hatte. Es war früh am Morgen. Heute wäre Silvester. Ich freute mich wie ein kleines Kind. Um zu lüften, öffnete ich das Fenster komplett und beschloss etwas Ordnung ins Zimmer zu bringen, nachdem ich etwas gegessen hatte. Ich verstand selbst nicht, wie ich so tollpatschig war und Nachlässigkeit für Ordnung zeigte.
Plötzlich knallte die Tür gegen meinen Haupt, weshalb ich nach hinten taumelte und mich an die Wand abstützte.
Eine geschockte Aylin kam herein und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich ignorierte sie und schmiss die zerknüllten Papiere in die Tonne, was ich eigentlich vorhatte.
Sie bat mich Platz zu nehmen, da sie reden wollte. Ich tat dies ohne wenn und aber und wartete gespannt auf ihre Rede.
"Hör zu. Ja, ich hab Mazlum gesehen. Er wollte zu dir, aber Erdem hat versucht ihn aufzuhalten. Trotzdessen war er hartnäckig. Doch als Erdem Abi meinte, dass ihr zusammen wärt, ist er gegangen. Erdem Abi meinte, du hättest ihn sowieso als Gast nicht erwartet. Es hat ihn halt traurig gemacht und er ist gegangen. Mir wurde erzählt, dass du das als Lüge ansiehst. Ja klar, wir haben dir etwas verheimlicht, aber das zu deinem Guten. Wirklich! Jetzt geht es dir nicht besser, nachdem Mazlum dich besucht hat, aber es kam alles unerwartet."
Kurz schwieg sie.
"Es tut mir aufrichtig Leid. Es war wirklich mein Fehler gewesen, dir sowas verschwiegen zu haben", ergänzte sie und war, wie ich, dem Weinen nahe.
Ihre Augen entsprachen der Wahrheit. Sie zeigte große Reue. Ich konnte ihr nicht mehr böse sein.
"Schon ok", flüsterte ich, lächelte schräg und umarmte sie fest, da sie anfing zu weinen.
"Man ich hab mir so Sorgen gemacht, was jetzt wird", murmelte sie in meine Schulter.
"Wein nicht", sagte ich und wusch ihr die Tränen mit meinen Ärmeln weg.
Erstaunlicherweise stand Erdem am Türrahmen und sah uns zu.
"Komm hier hin. Was stehst du da so blöd rum?", fragte Aylin und wechselte das Thema.
Während er es sich bequem machte, schaute ich ihn absichtlich kalt an und widmete mich Aylin, als auch er mich ansah.
"Ich freue mich so auf Silvester! Wir verbringen Silvester auf jedenfall mit dir!", sprach sie freudig und strahlte.
Ich sah sie nur mit einem 'spinnst du?' Blick an, da ich wollte, dass sie Silvester draußen mit ihren Freunden verbringt. Hier in der Psychiatrie wäre es doch völlig langweilig, während in der Innenstadt die Hölle abgingen würde.
Da Frankfurt eine Großstadt ist, würde ein großer Raketenkrieg stattfinden.
"Aylin, du feierst nicht hier", sagte ich streng, doch Sturkopf warf mir das Doppelte an den Kopf.
Wir lenkten vom Thema ab und redeten über Gott und die Welt.
Erdem sah uns nur zu und versuchte das Frauengespräch zu verstehen. Ich redete nicht viel, gab kurze Antworten. Man, wieso muss er mich aus dem Konzept bringen? Wieso traute ich mich nicht vor ihm zu reden? Obwohl ich es oft vor ihm getan hatte. Wieder einmal wurde ich von beiden beim Träumen erwischt, weswegen ich peinlich berührt wegschaute und versuchte, mich aus dieser Situation zu befreien. Ich war sowieso Erdem sauer, also sollte er sich sein Lachen sparen.
Ich sah lange zu ihm, bis er seine neutrale und kalte Seite zur Sicht brachte.
Aylin zwinkerte wie verrückt, als hätte sie was im Auge. Ich würde noch verrückt werden, dachte ich mir und kicherte innig. Erdem musste schnell los, dann konnten wir unsere Gespräche erst so richtig beginnen. Es ging wieder um Serhat, ihr Lover. Beide waren Hals über Kopf gegenseitig in sich verliebt und kämpften um ihre fast Beziehung.
"Erdem Abi geht heute feiern. Das heißt ich kann Serhat heute mit zu dir nehmen."
Moment mal was?
"Du wirst heute schön mit ihm Silverster verbringen Aylin! Ich selbst weiß, wie langweilig es hier sein wird. Also bitte, feier dort. Ich bin dir sogar nicht böse, es ist eine Bitte!", meckerte ich sie an.
"Nein!"
Demonstrativ verschränkte ich beide Arme vor der Brust.
"Du feierst nicht hier. Wenn du das tust, bin ich dir böse. Tu es für mich!", sagte ich lauter.
"Du bist mir nicht sauer?"
"Ich schwörs!"
"Geil!", schrie sie lachend.
"Du Arschloch", jaulte ich.
"Spaß, ich finds ernsthaft scheiße, aber vielleicht willst du es einfach allein verbringen. Ich tu es für dich, aber ich tauche bestimmt hier noch auf, also freu dich nicht zu früh!"
"Schon gut."
"Aber erst nach Silvester", ergänzte ich.
"Okay", lächelte sie und somit waren wir beide uns einig.
"Ich gehe dann mal los. Muss nämlich jemanden treffen", zwinkerte und kicherte sie. Nochmal entschuldigte sie sich für alles und gab mir einen dicken Schmatzer auf die Wange.
Es war bereits 23 Uhr. Ich stand am Fenster und überlegte, wie schnell die Zeit nur vergangen war. Es spielten sich Szenen von früher ab. Mein letztes Silvester. Mit meiner Familie und meinen Freunden. Waren das Zeiten!
In 10 Minuten würden die Raketen endlich in die Höhe fliegen. Ich musste innerlich lachen, als ich als kleines Kind dachte, dass die Raketen Allah treffen könnten. Minute zu Minute wurde ich trauriger und fühlte mich immer schlechter. Diese Zeiten fraßen mich einfach auf. Plötzlich wurde die Tür geöffnet und Erdem lief zu mir. Schnell fasste er mich am Arm, forderte mich auf ihm zu folgen. Zusammen liefen wir Hand in Hand irgendwo hin. Ich fragte mich, was das sollte, wieso er hier war und wohin er mich brachte. War er nicht, so Aylin, feiern?
"Na los, komm!", schrie er, als ich stehen geblieben war.
"W-was soll ich da?", fragte ich unsicher, als ich zur Leiter blickte, die zum Dach führte.
Er beantwortete meine Frage nicht, sondern ließ mich über seine Schultern fallen und kletterte die Leiter hinauf. Was tat er bloß da?
Wir waren auf dem Dach und spürten die frische Luft gegen uns peitschen.
Er lächelte und führte mich zum Rand. Dies war ein schlechter Zeitpunkt, denn ich war dem Weinen nahe.
Erdems Sicht:
Ich sah ihr in die Augen und sah alles. Pure Verzweiflung, Trauer und Panik. Vergebens versuchte sie die Tränen zu halten.
"Was machen wir hier?", flüsterte sie brüchig.
Mit jedem Wort drangen ihr mehr Tränen in die Augen, bis schließlich ihre Maske brach. Es war grausam, sie zu sehen, wie sie aufgegeben hatte, verstummte und sich den Tränen ergab. In fünf Minuten würde uns ein Feuerwerk erwarten.
Schnell wusch ich ihr die Tränen weg.
"Weinen steht dir nicht."
"Verzeihst du mir?", fragte ich sie.
Sie schüttelte ihren Kopf und sah gerade aus. Ich wusste sehr wohl, woran sie dachte und ihr dauerhaft Tränen in die Augen schossen.
"Was soll ich tun, damit du mir verzeihst?",fragte ich etwas belustigt.
Sie zuckte mit den Schultern und wusch sich die nervigen Tränen weg.
Fest umarmte ich sie von hinten und legte meinen Kinn an ihrer Schulter ab.
"Verzeihst du mir jetzt Prinzessin?", hauchte ich an ihrem Ohr.
Sie hingegen erschrak und entfernte sich rasch von mir.
"Noch 10 Sekunden", sagte ich leise.
Auch ganz Frankfurt schrie rückwärts die Zahlen hinunter. Auch wir zählten abwechselnd mit.
"5."
"4."
"3."
"2."
"1", ergänzte sie flüsternd.
"Frohes Neues Jahr", hauchte ich gegen ihre Stirn und küsste sie anschließend sanft.
Özlems Sicht:
Ich war geschockt. Überrascht! Das was hier gerade abging, war sicherlich ein Traum. Ich hatte gerade ernsthaft einen Kuss auf die Stirn bekommen. Dazu wurde ich davor von hinten umarmt. Wieso tat er das? Ich war durcheinander und konnte nicht mehr klar denken, was Erdem höchstwahrscheinlich mitbekommen hatte. Seine Arme waren um mich und verschränkten sich seitlich an meiner Hüfte, während ich fest an seiner Brust geschmiegt war und wir beide das Feuerwerk bewunderten. Es war faszinierend. Verschiedene Arten von Raketen flogen in die Höhe und bildeten Muster. Es war einfach nur wunderschön und romantisch. Erdem und ich auf einen Dach allein, vor uns ein sensationelles Silvesterfest. Niemand stand vor uns und versperrte uns die Sicht. Von hier hatte man die beste Aussicht auf ganz Frankfurt. Ich hörte das laute Klopfen seines Herzens und bewegte meinen Kopf mit seiner Brust mit, die sich erhob und wieder sank.
Ich strahlte und befolgte alles mit meinen Augen mit. Ich wünschte ich könnte mit meinen Augen diesen Moment aufnehmen.
Es waren bereits gefühlte fünf Minuten vergangen. Wir standen in der gleichen Position und sahen uns alles bis zum Ende an, bis mir diese Berührungen zuviel wurden und ich mich löste. Erst dann wurde mir richtig klar, was gerade geschehen war. Schnell nahm ich Abstand und verschränkte meine Arme vor die Brust. Nach weiteren Minuten hörte man nur noch Böller und anderen Zeugs. Die Raketenanzahl wurde niedriger. Mein Atem wurde durch Erdems Anwesenheit beeinträchtigt und es spielte sich alles nochmal im meinem Kopf ab. Wieso hatte ich das zugelassen? Zwar war es romantisch, schön und traumhaft, aber ich bereute es. Ich, Özlem, war zu stolz um mich jemandem herzugeben.
Und Erdem? Er benahm sich so anders. Ich zweifelte dran, dass er getrunken hätte. Warum sonst nahm er alles so locker und machte mich so an?
Mit großen Schritten näherte er mich. Er trug ein enges weißes Hemd mit einer dunklen Jeans, worin er das Hemd reingesteckt hatte. Seine Hände waren in seinen Hosentaschen, was noch attraktiver aussah. Grinsend stellte er sich vor mich und spielte mit seinen Schuhen, was mich nervöser als zuvor machte. Es war plötzlich mucksmäusschenstill. Nur paar Jugendliche draußen waren zu hören, die angetrunken rumschrien. Spannungsgeladen wartete ich auf etwas. Ein Satz was seine vollen Lippen verlässt vielleicht.
Nachdem was aber passiert war, traute ich mich keines Weges zu ihm zu schauen. Es wurde mir zu ungeduldig, weshalb ich zappelig wurde und Erdem plötzlich anfing zu lachen. Wieso lachte er? Ich schmunzelte bei seinem wunderschönen Lachen und versuchte mich nicht ausgelacht zu fühlen.
"Özlem", harmonierte seine Stimme.
Abrupt blickte ich hinauf, doch schaute nach links und erkundete die Landschaft. "Schämst du dich?", fragte er lachend und ließ mich gezwungen in seine Augen schauen, als er meinen Kinn zu sich drehte und einen Schritt näher trat.
Stur wie ich bin, schüttelte ich meinen Kopf und strich mir durcheinander eine Sträne hinters Ohr.
"Verzeihst du mir?"
Zufrieden nickte ich und bekam als Dank ein strahlendes Gesicht vor mir.
Wir beschlossen reinzugehen, als ich schnell noch die Aussicht genoss und dann ängstlich die Leiter herunter kletterte. Erdem tat es mir gleich und richtete seine Haare, die wegen der leichten Luft durcheinander posiert lagen.
Es waren viele Familien da, die ihre Kinder besuchten. Bei diesem Anblick füllten sich meine Augen. Jeder war gekommen, um dem Kind ein erfolgreiches Fest zu gönnen. Meine Eltern waren nicht da, dachten nicht mal an mich.
Mich tröstete der Bruder meiner besten Freundin und flüsterte mir ins Ohr, das er für mich da wäre und ich nicht allein wäre. Ich war Erdem so dankbar.
Zusammen stiegen wir in den Aufzug, der immer voller wurde und ich mittlerweile gegen Erden gedrückt wurde, der hinter mir stand und lachen musste. Mir wurde schlagartig heiß. Erstens, weil hier soviele Leute waren. Zweitens, weil hinter mir Erdem war und ich seinen kompletten Vorderkörper spürte. Drittens, weil er mir wieder einmal zu nah war.
Heute war echt was los zwischen uns und genau das wollte ich vermeiden.
Noch zwei Stockwerke, dachte ich mir und wartete ungeduldig auf den Piepton. Mussten wir auch so hoch sein? Klar, immerhin waren wir auf einem Dach. Manchmal könnte ich mir für meine dummen Fragen echt eine klatschen.
Unvorbereitet, dass zwei Menschen sich reinstürzten, aber einer nur rausstolzierte, verlor die Dame vor mir ihr Gleichgewicht und kippte zu mir, weshalb ich mehr nach hinten zu Erdem taumelte, der seine Hand auf meinem Bauch legte und mich an sich drückte.
"Tut mir Leid", entschuldigte sie sich mit einem schrägen Lächeln. Ich zuckte mit den Mundwinkel kurz in die Höhe als Annahme fürs entschuldigen.
Danach realisierte ich die große Hand auf meinem Bauch. Ich bekam, wie immer, dicke Gänsehaut. Blitzschnell legte ich meine Hand darauf und wollte sie entfernen, doch er hielt mich davon ab.
"Als Schutz, weil du alles immer viel später wahrnimmst", hauchte er leise an meinen Ohr.
Noch ein Stockwerk, reiß dich zusammen! Solang hielt ich meinen Atem an und sah mit aufgerissenen Augen nach vorn.
Er macht mich verrückt! Wieso passierte ausgerechnet heute soviel? Und wieso bitteschön ließ ich alles dann auch sein? Ich erkannte mich selbst nicht.
Da ich noch ein wenig Verstand besaß, konnte ich rechtzeitig seine Hand von mir nehmen und rückte stattdessen zu der Frau vor mir, um Abstand zu halten.
Als wir endlich ankamen, verließen mit uns fast alle den Aufzug. Endlich konnte ich wieder atmen und ließ die kühle Luft auf mir ruhen.
Ich ging vor, er mir hinterher, bis wir mein Zimmer erreichten, worin es eisig kalt war, da das Fenster noch offen war. Rasch schloss ich es und setzte mich an den Tisch, Erdem auch.
"Danke", traute ich mich und hielt Blickkontakt.
Das er statt feiern zu gehen, zu mir gekommen war und mit mir Silvester verbracht hatte, bedeutete mir viel.
Er lächelte mich warm an und meinte es wär ein wunderschöner Abend gewesen.
Ich stimmte mit ein, worauf er eine Konversation anfing, doch ich nur kurz Antwortete oder nur nickte.
Ich war mit meinem Verstand hin und war todesmüde, weshalb ich meine Augen kurze Zeit später schloss, öffnete, immer so weiter.
Doch ich wurde hellwach, als Erdem mir in die Wange kniff.
Er lachte mich aus, doch ich schenkte ihm keine Beachtung.
"Na los geh schlafen", forderte er mich auf und stand auf.
Bevor er ging schüttelte er mit seiner Hand meine Haare durcheinander und ließ mich mit einer stinkigen Mimik und Gestik stehen.
Ich verdrehte die Augen und machte mich im Bad fürs Schlafen frisch. Danach zog ich mir meinen Pyjama an und warf die Klamotten in die Ecke. Zum Glück hatte ich mich heute schick gemacht, sonst hätte ich mich neben Erdem blamiert. Eine weiße High Waist mit einer braunen Strickjacke passte doch. Kombiniert mit einer stinknormalen hellbraunen Bluse.
Mal wieder kam dieser Tag überraschenderweise früh.
Erst hatte er mich auf seinen Schultern getragen. Dazu hatte er mich von hinten umarmt. Danach hatte er mich auf die Stirn geküsst. Außerdem kam die lange Umarmung hinzu+die Szene im Aufzug. Soviel an einem Tag. Ich schimpfte mit mir selbst, dass ich ihm manchmal zuließ, mich zu berühren. Es war aber wunderschön. Ich weiß jetzt schon, wie ich beim nächsten Treff reagieren würde. Ich musste dieses Schamgefühl abstellen! Diesmal rutschte ich mit einem fröhlichen Gefühl ins neue Jahr und schlief felsenfest ein.

ÖzlemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt