Kapitel 24

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Erdem
Nach meinem Wecker brummte ich laut in mein Kissen, doch wurde bei dem Gedanken Özlem hellwach. Eilig machte ich mich frisch, brauchte für meine Haare etwas Verzögerung, doch ging wie neugeboren in die leicht kühle Luft. Es war acht Uhr morgens. Damit mich Aylin nicht erwischt, hatte ich mir eben einen Wecker gestellt. Nicht oft tat ich so etwas, es passte nicht zu mir, doch ich hatte seit gestern einen vollen Kopf mit zig Fragen. Selbst beim späten Meeting war mein Verstand an Özlems Gesundheit beschäftigt, weswegen ich unkonzentriert war und der Kunde umso ungeduldiger. Heute hatte ich eine bequeme Jogginghose mit einem engen Ralph Lauren Shirt an, kombiniert mit den neusten Nikes. Mit leichten Kopfschmerzen fuhr ich Vollgas Richtung Psychiatrie. Wie komisch es klang..Psychiatrie. Und genau dort hatte sich Özlems Schicksal verheddert. Wie es ihr wohl ginge? Aufjedenfall alles andere als gut. Angekommen fand ich heraus, dass sie den Raum gewechselt hat. Zimmer 224 im zweiten Stockwerk.
Schnell suchte ich diesen Raum, trat herein und wurde von einer Krankenschwester empfangen.
Es war recht ruhig im Raum, Trauer war verteilt.
"Wie gehts ihr?", fragte ich schluckend, als ich angekommen war und diese Geräte und Blutinfusionen neben ihr entdeckte.
"Den Untersuchungen entsprechend ganz okay", antwortete sie.
Nervös kratzte ich meinen frischgeformten Dreitagebart.
"Wie kam es zu diesem Selbstmord?", fragte ich neugierig.
Zwar wusste ich, dass sie sich umbringen wollte, doch auf welcher Art und Weise?
"Meinen sie mit welchen Mitteln?", korrigierte sie mich.
"Oh genau", sagte ich.
"Sie hat sich ein Messer in den Magen gerammt", sprach sie vorsichtig.
Woher hatte sie den Mut? Wie konnte sie sich so etwas trauen?
Wir unterhielten uns kurz darüber, bis sie meinte, dass Özlem jeden Moment aufstehen würde und sie den Verband wechseln müsste.
Ich meinte, ich würde es schon machen, da ich nur den Verband am Kopf und nicht am Bauch wechseln musste.
Letztendlich ging sie auch und ließ mich allein.
Sie sah schrecklich aus. Sie war total abgemagert und an diese Kabel angeschlossen, als würde sie im Koma liegen.
Nach weiteren Minuten voller Gedanken und Anstarren bewegte sie sich nur allzu schwer und murmelte unverständliche Wörter aus ihrem trockenen Munde.
Ich hielt den Verband bereit und richtete mich richtig hin, als würde mich die Queen besuchen wollen.
"Özlem", hauchte ich, als ihr das Aufstehen schwer fiel und sie kurz stöhnte.
Beide Hände legte ich unter ihren Achseln und zog sie mit niedriger Kraft nach oben. Sie war viel leichter geworden.
Immernoch hatte sie ihre Augen geschlossen und gähnte.
Leicht schmunzelte ich. Was für eine Schlafmütze.
Als sie mich sah, versuchte sie stärker zu wirken und setzte sich hin.
Fragend sah sie mich an, gleichzeitig bedrückt und wütend.
"Ich bin dich besuchen gekommen. Nachdem was passiert ist, konnte ich nicht lang warten", sprach ich ehrlich.
Diese Aussage ließ sie auf die fürchterlichen Szenarien zurückblicken, denn sie sah träumerisch zum Boden.
"Hast du sehr Schnerzen?", fragte ich besorgt.
Sie ignorierte mich wie gekonnt und spielte mit ihren Fingern. Innerlich seufzte ich etliche Male.
"Zeig mal her", sprach ich tief und hielt ihren kleinen Kopf in meinen Händen.
Sie bekam Angst und legte ihre Hände auf meine, um sie zu entfernen, doch ich bat sie, es zu lassen, was sie nach langem Zögern tat.
Vorsichtig wickelte ich ihren Verband aus und säuberte das Blut rund herum ihrer Wunde. Sie blickte konzentriert nach oben auf meine Hände und befolgte jede Bewegung. Danach wickelte ich den neuen und echt langen Verband um ihren Kopf und machte einen leichten Knoten.
"So besser", sagte ich zufrieden und lehnte mich ans Bett. Sie wurde nervös. Selbst beim Tippen meines Zeigefingers am Bettrand schluckte sie versehentlich laut ihr Speichel runter.
Sie sah ehrlich gesagt knuffig in diesem Verband aus. Ihr Mittelscheitel kam durch den Verband mehr zur Geltung.
"Wie gehts dir?", fragte ich anschließend, nachdem sie sich unbemerkbar machte.
Sie hingegen sah gerade aus nach vorn.
Hatte sie ernsthaft aufgehört zu Sprechen? Durch diese verdammten zwei Gäste vor gefühlter einer Woche war sie wieder die Alte? Verstand ich es richtig oder war heut nicht ihr Tag?
"Willst du mich weiter ignorieren?", fragte ich streng und bückte mich zu ihr, da ich ja mit beiden Händen mich an die Bettkante festhielt. Desto näher ich ihr kam, desto mehr konnte ich ihren Eigengeruch in mich inhalieren. Plötzlich fiel mir auf, dass ich mich zu sehr an sie genähert hatte und sie sich mit ihrer zittrigen Hand imaginäre Strähnen hinters Ohr steckte.
"Özlem", sprach meine raue Stimme gegen ihre Wange und begutachtete sie.
Augenblicklich schränkte ich diese unangenehme Situation ein und entfernte mich von ihr.
"Willst du dich lieber ausruhen? Du bist blass geworden", stellte ich fest.
Sie jedoch lehnte sich nur nach hinten, sah überall hin, außer zu mir, was mir regelrecht auf die Nerven ging.
Ich hasste es, dass sie mich ignorierte, so kalt und abweisend war und ihr alles egal wurde.
Sanft hob ich ihren Kinn, sodass sie in meine Richtung sah und durchbohrte sie mit meinen dunklen Augen. Auch ihre Augen strahlten Dunkelheit aus, doch mittig entdeckte ich einen Funken grün. Sowas gab es selten. So krasse Augen.
"Ich weiß du fühlst dich grad fürchterlich schlecht und willst wieder den Versuch wagen, uns zu verlassen, aber ich werde es nicht zulassen. Wenn du willst, rede ich mit deinen Eltern und versuche alles gerade zu biegen, denn beim Besuch warst du nicht mehr bei dir. Dass du Tag zu Tag daran zerbrichst, macht Aylin als auch mich traurig. Aber bitte ignoriere mich nicht, sondern rede mit mir. Ich helfe dir, auch wenn du wieder rückfällig bist. Auch wenn es dir schwer fällt. Sobald du mich anrufst, komme ich zu dir. Denk dir nicht, dass du uns egal bist, denn du spielst eine große Rolle in unserem Leben, okay?" Ich wurde immer lauter.
Entsetzt schloss ich meine Augen, als sie ihren Kopf schüttelte. Ihre Augen wurden wässrig und drohten auszubrechen. Ich war ein Vollidiot. Die Rücksicht auf ihre Sensibilität hatte ich völlig aus dem Spiel gelassen.
"Es tut mir Leid", sagte ich schuldig und wusch ihr gezwungen die Tränen weg.
Der Gedanke, das wir uns öfters zu nah waren, brachte mich zum Lächeln.
"Abi?!"
Abrupt nahm ich meine Hände von ihr und drehte mich um.
"Aylin", sagte ich lässig und versuchte dir vorherige Situation zu ignorieren.
"Was machst du hier? Bei Özlem", lächelte sie teuflisch und zog ihre Augenbraue in die Höhe.
Özlem sah uns nur angewidert und schenkte uns arrogante Blicke, als wäre sie wütend über diese Aussage.
Fest umarmte Aylin Özlem, zerdrückte sie beinahe und setzte sich zu ihr.
"Man ich hatte so Angst. Diesmal werde ich dich täglich besuchen, versprochen!"
Aylin hielt eine lange Predigt, vergoss wie Özlem unzählige warme Tränen und entschuldigte sich etliche Male. Selbst mit Aylin sprach sie nicht. Diese Freundschaft war beneidenswert. Beide waren unzerbrechlich. Beide halfen sich und kämpften um diese schwere Freundschaft. Beide erleben die schlimmste Zeit ihres Lebens, doch legten ihre Kraft in den Kampf. Trotz dieser ignoranten Art tat Aylin alles dafür ihre alte beste Freundin zurück zu gewinnen.
Aufmunternd lächelte ich Aylin an und verschwand aus dem Zimmer.
Özlem
"Was habt ihr eben getan?", fragte Aylin lächelnd.
Augenverdrehend sah ich aus dem Fenster.
"Özlem. Ich werde heute mit deinen Eltern reden."
Erstarrt blickte ich zu ihr und schüttelte meinen Kopf.
"Sie werden mich noch mehr hassen Aylin", flüsterte ich und schüttelte entsetzt meinen Kopf.
"Nein werden sie nicht. Ich werde alles mit ihnen durchgehend besprechen und zu einem Entschluss kommen. Mir reicht es so langsam. Die eigene Tochter so hassen, obwohl sie den Grund nicht kennen."
"Hat er sich wenigstens nicht blicken lassen?"
"N-nein", stoßte ich hauchend aus mir.
"Özlem-
"Geh zu ihnen. Jetzt sofort!", schrie ich laut und zeigte zur Tür.
"Und sag ihnen, dass ich sie liebe", flüsterte ich flennend."
Mit Tränen nickte sie und verschwand nach langem Zögern. Meine Welt brach zusammen. Übermüdet schloss ich meine nassen Augen und geriet in den Schlaf.
~
Verschwitzt stand ich auf und sah mir jede kleine Ecke des Zimmers an, als würde mich jemand beobachten. Es war kein jemand, er war es. Geschockt schaltete ich das Licht an und atmete erleichtert aus. Nur ein Traum, nur ein Traum. Einsamkeit führt einen echt in den Wahnsinn. Komischerweise fehlte eine Ärztin oder Krankenschwester, was mich ziemlich wunderte.
Verzweifelt lehnte ich mich nach hinten und starrte die zwei neben mir posierten Geräte. Das Piepen machte mich umso nervöser und mein Schluchzen riet meinem Herz das Atmen ab. Meine Eltern würden endlich eine Antwort auf dieses Verhalten geben. Ich würde neue Informationen bekommen. Zerstört vor Einsamkeit griff ich nach dem Handy und versuchte Aylin zu erreichen. Ich bräuchte jetzt in diesem Moment jemanden und das war sie, doch die Mailbox meldete sich an ihrer Stelle, bereits vier Mal. Innerlich dachte ich an Erdem und fühlte mich dazu gezwungen ihn anzurufen, doch der Teufel an meiner linken Schulter riet mich davon ab.
Schluchzend ließ ich das Handy auf die Kommode neben mir fallen und vergrub mein Gesicht ins Kissen. Meine Eltern brachten mich um. Von diesen Kabel konnte ich nicht weg. Ich war hier drin verschlossen in diesem Raum, konnte nicht einmal zur Toilette flüchten.
"Mama", wiederholte ich gequält und ließ meine Frust an mich selbst raus.
Wieso haben sie mir so etwas schlimmes angetan? Mir soviel Schmerz zugefügt und anschließend nichts bereut? Wieso hat mein Bruder diese Mission mitgeführt und wie konnte er als großer Bruder seine Schwester nicht beschützen? Wieso musste ich ausgerechnet ihm gehören? Wieso war er ausgerechnet der jenige, der mich in Besitz nahm und andere dazu aufforderte mich fertig zu machen? Wieso hat er an jeder meiner Körperstelle eine Narbe hinterlassen? So konnte ich ihn nicht vergessen.
"Özlem", hörte ich plötzlich und zuckte schreckhaft.
Tatsächlich hatte ich seine Nummer gewählt. Ich brauchte doch nur Hilfe. Immerhin war ich auch nur ein durchschnittliches Lebewesen, was Gefühle hat. Aus meinem Munde konnte ich nicht einmal einen Atemzug herausbringen. Mein Hals war zugeschnürt. Mein Handy drohte aus meiner Hand zu rutschen. Je öfter er meinen Namen wiederholte, desto fester schloss ich meine Augen und ballte meine Hand immer mehr zu einer Faust.
"Soll ich zu dir kommen?", fragte er besorgt.
Vorsichtig nickte ich, doch merkte erst dann meine Dummheit. Als könnte er mein bestätigtes Nicken hören. Ich wollte ihn bei mir haben. Ich fühlte mich im Moment einfach nur zu ihm hingezogen. Er war nach Aylin der einzige Anker, der mir Halt schenken würde.
"Ja!", flüsterte ich hastig und hielt mir fest die Hand vorm Mund, um ihn meinen Schluchzer nicht hören zu lassen.
"Gib mir fünf Minuten."
Meine Kopfverletzung brummte schmerzhaft und gab mir das Gefühl, das mein Kopf hin und her schwanken würde. Mein Körper hatte seinen Geist aufgegeben. Nichteinmal meine Muskel spürte ich, trotz, dass sie angespannt waren.
Meine Bettdecke war bis zu meiner Nase hochgezogen und meine Augen geschlossen. Immernoch weinte ich verletzt um meine Eltern. Meine Knie hatte ich so nah wie es ging zu meiner Brust gezogen, sodass ich seitlich auf dem Bett lag und mir selbst versuchte Schutz zu schenken.
Zum ersten Mal wartete ich sehnsüchtig auf Erdem und freute mich ihn zu sehen. Er war ein Held während den dunkelsten Stunden meines Lebens geworden. Zum ersten Mal bedeutete mir sein gleich kommender Besuch etwas. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass er seine Zeit für mich opfert.
Tatsächlich hatte er seine fünf Minuten eingehalten und erschien schweratmend vor der Tür. Zu mir angekommen setzte er sich auf das Bett und strich über meine Haare.
"Komm her", flüsterte er, hob mich mit beiden Armen hoch und versteckte mich im seiner Brust.
Tränenüberströmt schluchzte ich laut und ließ alles an ihm raus. All den Kummer und Schmerz. All die Ereignisse. Einfach alles ließ ich mit meinen stummen Tränen raus. Meine Beine lagen geraude aus gestreckt auf seinen Oberschenkeln, meine Arme hatte ich auf seine Brust platziert, ebenso wie meinem Kopf, der seinen schnellen Herzschlag analysierte und meine Schluchzerei stoppte, um das enorme Klopfen des Herzens zu hören.
Denk dir nicht, dass du uns egal bist, denn du spielst eine große Rolle in unserem Leben, okay?
Er hatte sein Wort gehalten. Es war nicht schwachsinniges Zeug, was aus seinem Munde kam. Er meinte es todesernst und erfüllte jeden Satz.
Sobald du mich anrufst, komme ich zu dir.
Unsicher legte ich beide Arme um seinen Oberkörper und zog ihn näher zu mir. Seine Lippen kamen in Kontakt mit meiner Schläfe. Hauchend hinterließ er mir einen sanften Kuss. Mit seiner Nase streifte er leicht über meine Wange und drückte meinen Kopf mit seiner rechten Hand zu seiner Halsbeuge. Sein Dreitagebart war deutlich an meinem Hals zu spüren, weswegen es anfing zu jucken, doch ich seine Geborgenheit annahm und meine Trauer mit ihm teilte.
Nach gefühlten Stunden schmerzte vor Flennerei mein Schädel immer mehr, weshalb ich mich ungewollt von ihm löste, meine Tränen wegwusch und mich einwenig nach hinten lehnte.
Bein Atmen schmerzte mein Brustkorb, als würde sich eine Nadel darin verstecken und mir bei jeden Atemzug wehtun.
"Wieso weinst du?", flüsterte er und strich über meine Hand, die eine Infusion an sich trug.
"Ich hatte einen Albtraum", beichtete ich ihm leise und krallte meine Finger in die Bettwäsche.
"Was ist in deinem Traum passiert?", fragte er vorsichtig und lächelte, als ich ihm in die Augen sah und die Außenwelt um seine Augen verschwommen wurde.
"Ich wurde geschlagen", sprach ich ehrlich und brüchig. Rasch schoss mir Feuchtigkeit in die Augen und verteilte sich an meinem Augenlid.
"Wieso hat dich jemand geschlagen?"
Entsetzt sah ich zu ihm und drückte meine Lippen zusammen.
"Ich hab nichts getan! Ich habe auf alle gehört, all ihre Wünsche erfüllt, ich schwörs!", wurde ich lauter und sah ihm unschuldig in die Augen.
"Ist doch okay. Ich glaub dir", lächelte er und nahm mich erneut in seinen zwei Hulkarmen. Seine Berührungen richteten meine Nerven und beruhigten meine Seele, wie an Silvester.
"Wer hat dich geschlagen?", fragte er und strich meine unordentlichen Haare glatt. Seinen Namen auszusprechen, ich könnte kotzen. Allein sein Name reicht aus mich umzubringen, von dieser Welt zu verschwinden.
"Kaan."

ÖzlemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt