Kapitel 47

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"Lass mich ausreden. Ich.. Ich weiß nicht, was du fühlst oder denkst, wie du von mir denkst, aber Kaan hat es mir so oft an den Kopf geworfen, dass es sich in mir eingeprägt hat und ich mich gefragt hab, ob nicht auch du so von mir denkst."
"Erzähl", sprach er sanft und strich nebenbei meine Strähnen hinter meinen Ohren.
"Findest du mich zu dünn?"
Ich selbst wusste nicht, wie ich ihm so offen die Frage stellte, es war mir eher aus dem Mund herausgerutscht. Doch durch seine Gesichtszüge sah ich die Antwort heraus. Ich meine, Erdem war doch eher der Typ, der auf das Äußere achtet, wieso dann ich? Was hab ich überhaupt zu bieten? Genau, garnichts.
Stillschweigen. Sekunden danach senkte ich meine Blicke und sah enttäuscht, aber auch peinlich berührt zu Boden. Was erwartest du Özlem?
Für mich hatte sich nichts geändert, ich hasste meinen Körper, doch Erdem meinte doch so oft, dass ich zugenommen hab und er sich freut? Hat er mich etwa angelogen, damit ich dadurch umso mehr zunehme?
"Özlem wieso glaubst du so einem Bastard?", fragte er zähneknirschend, dennoch ruhig.
"Du nimmst dir alles zu Herzen, dabei musst du dir selbst ein Bild von dir verschaffen. Einem Bastard wie ihm glaubst du also?"
"Komm mit", sagte er plötzlich und zog mich irgendwo mit.
Ohne weiteres gesagt zu haben folgte ich ihm nur. Ich verstand nicht, was ihn so aus der Fassung gebracht hat, dass er so gefährlich schaut, doch irgendwas würde noch passieren, da war ich mir sicher. Meine Bauchschmerzen zeigten sich nicht umsonst so klar.
"Nein", hielt ich ihn sofort auf, als er mich in die Shishabar schleppen wollte.
"Doch", zog er mich mit.
"Ich will aber nicht", versuchte ich mich zu lösen, doch er tat, was er für richtig hielt. Unszwar mich zu Kaan und dem Rest bringen.
"Kaan komm mit", sagte er kühl, sah kurz in die Runde und lernte Druck an meinem Arm aus, was mir nach einer Zeit Schmerzen verbreitete.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah Kaan zu mir, stand auf und folgte Erdem, der mich immernoch zwanghaft hinter sich schleppte und mich verachtete.
Draußen stellten wir drei uns hin, alle still. Gewisse Distanz herrschte zwischen beiden, dazu purer Hass.
"Was hast du zu ihr gesagt?"
"Was soll ich gesagt haben?, fragte Kaan lässig.
Ich hasste Erdem in diesem Moment einfach nur. Es war mein Problem, meine Sache. Immerhin waren wir zerstritten, da hatte er überhaupt nicht das Recht mich noch zu verachten.
"Ich hab dich was gefragt. Wenn ich dich was frage, will ich gefälligst eine Antwort, bist du taub oder was?", fragte Erdem angepisst und schubste ihn nach hinten.
Mein mulmiges Gefühl hatte sich bestätigt. Es würde gleich eine blutige Schlägerei geben.
"Hat dir deine Perle nicht schon alles erzählt?", fragte Kaan provokant.
Schwach ist der jenige, der auf Provokation eingeht also erhoffte ich mir, dass Erdem ihm keinen Schlag verpasst.
"Soll ich ehrlich sein? Özlem er will dich ficken. Und Erdem soll ich zu dir ehrlich sein? Alles Knochen an dem Weib", zeigte er mit dem Finger auf mir.
Danke Erdem, das ich Dank dir gleich wieder weinen würde. Immer wieder das Gleiche. Mir wird tagtäglich ein Beinchen gestellt, das Beinchen nennt sich mein Schicksal.
Weiteres als einen Schlag nahm ich nicht wahr. Meine Ohren waren wie zugenäht, eine Art Trance.
"Du sollst dich bei ihr entschuldigen", schrie Erdem und schlug ohne weiteres hin auf ihn ein, immer wieder, immer schneller und immer stärker.
"Wieso?"
"Wo soll sie dünn sein?!", schrie Erdem energiereich.
Mit seinen Fingern zeigte er auf mir und zitterte leicht.
"Was willst du schon sagen? Von dir brauch ich erst garnicht zu reden, hauptsache hinter ihrem Rücken mit Weibern rumlecken!", schrie nun Kaan. Seine Augenbraue war aufgeplatzt, wieso gab er nicht einfach nach?
"Özlem macht nur Show. In diesem Mädchen steckt die größte Schlampe! Was willst du überhaupt von dieser Ungebildeten? Özlem sag schon, hast du wenigstens den Hauptabschluss geschafft?", lachter er bitter.
Kurz sah Erdem zu mir und blickte zu meinen bebenden Lippen, die kurz vor dem Ausbruch waren. Sein Brustkorb hob und sank sekundenschnell. Kaan hatte er am Kragen festgehalten und gegen die Wand gedrückt.
"Seh ich nocheinmal, dass du sie belästigst oder überhaupt anguckst, schwöre ich dir, dass ich dich in den Grab schlag. An deiner Stelle würde ich mich ihr garnicht nähern, sonst wirst du sehen."
Kaan sagte etwas, was ich nicht verstand, doch plötzlich ging Erdem auf ihn los. Wie eine Maschine produzierte er in Binnen von Sekunden Blut an Kaans Gesicht, der sich zu Boden krümmte.
Sofort gab mein Kopf Alarm.
Schnell rannte ich in die Bar und zog den Nächstbesten am Arm.
"Sie müssen mir helfen", kam geschockt aus mir.
Draußen angekommen ging er sofort dazwischen und schrie beide an, dass es reicht. Erdem ähnelte in diesem Moment einem Tiger, der seine Beute endlich nach langem bekommen hat. So aggressiv und sicher.
Der Mann kniete sich zu Kaan und nahm das Handy heraus, während Erdem nur dahin sah. Statt Schuldgefühle zu haben, sah ich den Stolz in seinem Gesicht geschrieben.
Inzwischen hatten sich Menschenmengen um uns versammelt und auch mein Bruder stand mit seinen Freunden dort. Ich hatte das Gefühl, das Kaan tot war, so schlimm blutete er.
Plötzlich spürte ich eine Hand an meiner Schulter, schon wurde ich von der Person nach hinten gedreht.
"Lass uns gehen", sagte mein Bruder so sanft wie nie zu mir.
Traumatisiert nickte ich hastig und spürte immernoch seine Hand um meinen Rücken, die mir unfassbar viel Kraft schenkte. Er war sonst nie so zu mir gewesen.
Bei seinem Auto angekommen setzte ich mich hin und atmete aus. Ich musste alles erstmal verdauen, denn es ist so schnell geschehen.
Doch als ich hinter mir den Krankenwagen hörte, spannte sich mein kompletter Körper an. Was würde jetzt passieren? Erdem war mit einer Freiheitsstrafe auf Bewährung  davon gekommen und eben hat er ihn so stark geschlagen, dass er sein Selbstbewusstsein verloren hat. Er würde zu hundertprozent ins Gefängnis kommen und das wegen mir.
Versteift sah ich auf die Straße und versuchte optimistisch zu denken, doch es stand schon fest, dass Erdem ins Gefängnis kommen würde. Jahrelang hinter Gittern.
"Hast du dein Handy dabei?", fragte mein Bruder und schaltete den nächsten Gang.
"Ruf Erdem an, ich helf ihm jetzt erstmal raus."
Rasch wählte ich seine Nummer und gab meinem Bruder das Handy.
Es war kompliziert zu verstehen, was sein Plan war, doch ich fragte mich, wie das alles klappen sollte, wenn Kaan bestätigen würde, dass es Erdem war und es zig weitere Zeugen gaben, die es hautnah miterlebt haben?
"Ist Kaan tot?", fragte ich leise, als er auflegte.
"Nein", gab er genervt von sich, als würde er mich dumm darstellen.
Zuhause angekommen parkte er und sah herunter zu mir.
"Alles okay?", fragte er vorsichtig.
"Abi, ich hab Angst", flüsterte ich unter Tränen und spürte wie aus dem Nichts seine Arme um mich, was mich doppelt zum weinen brachte.
Mein Bruder umarmte mich zum ersten Mal! Zum ersten Mal fühlte ich mich nach Jahren endlich wieder geborgen.
Kurz darauf küsste er meine Stirn und strich über meinen Rücken.
"Ich hab dich so vermisst", flüsterte er.
Erschrocken entfernte ich mich von ihm und riss meine Augen auf.
Seine Augen glänzten in der Dunkelheit, als wäre er dem Weinen nah.
Unerwartet presste er meinen Kopf an seine Brust und so blieben wir weinend Arm in Arm.
Ich dachte ernsthaft, es würde kein Ende mehr geben, ich dachte es würde sich nichts mehr zwischen und ändern.
"Ich hoffe Allah lässt mich in der Hölle brennen, weil ich dich so verletzt habe. Ich weiß, es geht nichts mehr rückgängig, aber verzeih mir. Ich weiß nicht, wie du einfach alles einstecken konntest, aber du hast so ein gutes Herz. Ich wollte dir einfach nicht verzeihen, keine Ahnung wieso-
Er unterbrach sich selbst und wusch meine Tränen weg.
"Ich bereue die letzten Jahre so", sagte er eher zu sich.
Ich sah nur zu Boden und verstand nicht recht. War das ein Traum? Mein Bruder bittet mich um Verzeihung, dabei hab ich ihm schon längst verziehen. Durch diese Verzeihung vergaß ich alles und strahlte innerlich. Ich hatte meine Familie wieder. Mein Bruder hatte gefehlt, jetzt hat sich das Puzzle zusammenbauen lassen. Wir sind nun endlich eine Familie ohne Hass und Verachtung.
"Du musst nichts sagen. Du brauchst bestimmt Zeit alles-
"Nein, nein Abi. Ich hab dir schon längst verziehen", lächelte ich unter Tränen und schlang meine Arme um ihn.
So sehr hatte ich ihn vermisst und garnicht bemerkt, wie stark damals unsere Geschwisterliebe war.
"Lass uns wieder rein", schlug ich vor, denn mir war kalt geworden.
Zuhause war keiner, also setzten wir uns ins Wohnzimmer, nachdem wir in unsere Pyjamas schlüpften und taten nichts außer reden. Erdem war das Hauptthema. Ich sollte ihm erzählen, was passiert ist, als ich rausgegangen bin. Abi war garnicht erfreut darüber, dass ich Erdem diesen Fehler verziehen hab, doch so schnell würde alles nicht klappen. Erdem würde es noch bereuen, ich würde ihn immernoch nicht unter die Augen treten, denn die Aktion war nicht verdaut.
Trotz, dass er Erdem nicht mochte, holte er ihn aus der Situation heraus, was mir die Ruhe gab. Wo wohl Erdem steckte und was er gerade tat, das wusste ich nicht.
Das Szenario spielte sich immer wieder in meinem Kopf ab, als würde ich auf Replay drücken. Kaans blutiges Gesicht erschien ungewollt vor meinen Augen.
So aggressiv hatte ich Erdem nie erlebt. Seine Fäuste haben brutal zugeschlagen. Es war schlimm.
"Hast du was gegessen?", fragte mein Bruder.
Nur gefrühstückt hatte ich, ich hatte komplett vergessen zu essen, auch wenn es dämlich klang.
Kurz schüttelte ich meinen Kopf, schon marschierte er in die Küche und machte uns etwas zum essen.
Mein Handy klingelte. Mein Atem stockte, als ich den Namen las, Erdem. Ob ich rangehen soll oder nicht. Ich überlegte, zu lange, weshalb nach wenigen Sekunden mein Handy keinen Ton aus sich gab.
Eine halbe Minute verging und wieder klingelte mein Handy.
"Hallo?", gab ich zittrig von mir.
"Melegim", atmete er erleichtert aus.
Kurz entstand Stille. Anscheinend war er am rauchen, denn man hörte, wie er seinen Rauch auspustete.
"Wir müssen Klartext reden", sprach er wie aus einem Hauch.
"Ich will nicht."
"Özlem bitte. Das soll alles jetzt ein Ende haben, wir werden nicht getrennte Wege gehen können. Und zu deiner Frage. Du zweifelst so stark an dir, dabei ist dir garnicht bewusst, wie hübsch du bist. Ja, du bist etwas dünn, aber daran arbeiten wir doch, stimmts? Mir gefällt dein Körper, egal ob dünn oder dick. Stell mir niemals mehr so eine Frage und zweifel nicht an dir."
"Ich weiß, wir können das alles nicht schnell rangehen lassen und du brauchst auch Zeit. Du hast deine Zeit und ich würde es auch verstehen, wenn du mich verlassen würdest, aber ich kann wirklich nicht ohne dich."
"Von mir aus kannst du deinen Bruder auf mich hetzen, ich hab es verdient."
"Darf ich dich morgen abholen?"
"Nein ganz sicher nicht", sagte ich stur.
"Soll ich dir also Zeit lassen?"
"Ja."
"Ich leg auf, Bye", ergänzte ich und legte daraufhin auf.
Mein Herz pochte wie verrückt. Ich war so durcheinander, ich wollte ihm doch garnicht verzeihen.
"Was gehst du so nett mit ihn um?", hörte ich hinter mir.
"Abi jetzt nicht", murmelte ich und marschierte mit ihm in die Küche.
"Spaghetti", strahlte ich über beide Ohren und lächelte meinen Bruder an.
"Frisch aus der Packung", machte er alles kaputt.
Mein Magen knurrte, weshalb ich begann zu essen und den ganzen Teller innerhalb von fünf Minuten verputzte.
"Ich geh auf mein Zimmer", brummte ich müde und setzte mich im Zimmer auf das Bett.
Meine Klamotten hatte ich nicht in den Schränken eingerichtet, sogar ein Gegenstand hatte ich nicht im Zimmer aufgelegt, da ich jeden Tag mit der Angst lebte, rausgeschmissen zu werden.
Spät in der Nacht weckte mich mein eigener Schrei. Ein Albtraum. Schnell schaltete ich das Licht an und griff nach der Flasche Wasser.
Ruhig bleiben. Ein- und ausatmen. Deine Angstzustände verschwinden gleich. Handle wie es dir deine Psychologin beigebracht hat.
Fest schloss ich meine Augen und versuchte mich auf den Schlaf zu konzentrieren. Die Lampe ließ ich sicherheitshalber doch lieber an, falls ich erneut durch einen Albtraum geweckt werde. Mir fehlte Erdem jetzt schon. Er war immerhin derjenige, der mir die Angst nahm, wenn ich einen schlimmen Traum erlitt.
Irgendwann schlief ich ruhig ein und wachte spät am Morgen auf. Meine Eltern waren nicht da, so mein Bruder. Sie würde spätestens in vier Tagen erscheinen, da sie in Hamburg bei Bekannten waren. Morgens rief mich mein Vater an, um mir persönlich Bescheid zu geben. Nachdem Frischmachen frühstückte ich ein wenig und half meinem Bruder beim Aufräumen. Der Tag verlief recht langweilig, nur, dass am Abend die Freunde meines Bruder kamen und ich mir somit ein wenig Ablenkung gönnte. Die nächsten fünf Tage verliefen ebenso, ereignislos. Meine Psychologin kam mich regelmäßig besuchen und bemerkte, dass es mir nun wirklich besser ging. Mal abgesehen von Erdem. Ich hatte zwei Kilo zugenommen, was mich zufrieden stellte. Meine Eltern waren wieder zurück. Es war alles wieder gut bis auf die Sache mit Erdem und das mein Vater immer schwächer wirkte. Irgendwas stimmte nicht mit ihm, da war ich mir sicher, nachdem beide von Hamburg nach Frankfurt zurück kehrten. Am nächsten Tag bekamen wir Besuch, nichts übliches.
Ereignislose Tage vergingen, der Monat verging wie im Flug und der Februar war kurz vorm Ende. Ich hatte Erdem oft begegnet, ob in der Stadt oder beim Joggen. Das Gute war, dass er mich nicht bedrängt hat. Das Schlechte, dass ich die Tage nach unseren zufälligen Treffen wieder an ihn denken musste.
Mein Bruder war gegen unsere Beziehung, da Erdem kein guter Umgang für mich sei. Er kannte ihn dabei garnicht und unterstellte ihm so einiges. Alles lief friedlich, also beschloss ich diese Gedanken wegzuschütten und meiner Mutter zu helfen.
Nach dem Helfen ging ich in die Innenstadt, um die Einkäufe von Zuhause zu erledigen, da mir langweilig war.
Mit den schweren Tüten musste ich zu Fuß nach Hause, weswegen ich sofort bereute nicht den Einkaufswagen genommen zu haben. Nadann eben mit Tüten, dachte ich mir augenverdrehend und schleppte das Gekaufte mit mir. Ein lauter Motor neben mir ertönte, was rasch meine Aufmerksamkeit gewann und ich einen nagelneuen Mercedes-Benz cls 63 im eleganten schwarz sah. Ein Traumauto.
Es befand sich unerwartet Erdem im Auto. Das hieß, er hatte sich einen neuen Wagen angeschafft.
"Komm ich fahr dich", sprach er neutral.
Stur schüttelte ich meinen Kopf und der Griff an den Tüten wurde fester. Unüberlegt stand ich da, starrte zu ihm, doch ging, als mein Gehirn Alarm gab.
"Warte", rief er, parkte, stieg aus und rannte mir hinterher.
"Ich will gehen", versuchte ich mich von seinen Händen zu lösen, die meinen Handgelenk umfassten.
Unkontrollierbar stieß ich gegen seine Brust, als er mich stark zu sich drehte.
Mit beiden Händen umschloss er meine Hände, die automatisch seinen Rücken umklammerten und ich nun ungewollt an seine Brust gelehnt war.
"Ich hab keine Zeit. Meine Eltern warten", argumentierte ich weiter.
Sein Lächeln verwandelte sich zu einem Grinsen.
"Wie süß du heute aussiehst", sah er hinunter zu mir.
"Danke", murmelte ich leise und sah zu Boden, da er pausenlos zu mir sah.
"Fährst du mit mir eine Runde?", fragte er charmant, dennoch gleichzeitig süß.
"Ich will nicht."
"Warum?"
"Darum."
Ein kurzes Lachen entstand.
"Komm schon. Ich kann dich doch nicht diese kiloschweren Tüten tragen lassen. Der Weg ist außerdem zu weit. Ich wette, dass du mitten im halben Weg abkratzen wirst."
"Okay, dann wetten wir. Lässt du mich jetzt los?"
"Nein, komm jetzt", küsste er sanft meine Wange mit seinen feuchten Lippen.
"Komm", zog er mich vorsichtig zum Auto.
Meine Tüten nahm er ab und legte sie hinten ab. Nachdem er mir die Tür öffnete, schoss mir sofort sein Geruch in die Nase. Welches Parfum auch immer das ist, es machte einfach süchtig. Sein Eigengeruch roch tausendmal besser als One Million.
Eingestiegen startete er den leisen, kaumhörbaren Motor. Die Ausstattung war elegant, schwarz. Einfach luxuriös.
"Für was eingekauft? Bekommt ihr Besuch?"
"Nein, einfach so",murmelte ich und sah gerade aus zur Straße.
"Läuft alles gut bei euch? Also bist du zufrieden?"
Müde nickte ich.
"Und Mazlum?"
"Wir haben uns vertragen, schon lange her aber."
"Wieso bist du nicht im Gefängnis?", rutschte unkontrollierbar wütend aus meinem Mund.
"Meine Bewährungshelferin hat da so einiges geklärt", wurde er ernst.
Gähnend rieb ich mir die Augen. Verdammte Albträume, wieso musste ich ausgerechnet diese Nacht schlecht träumen, dass ich unzählige Male in seiner Anwesenheit gähne?
"Du solltest schlafen", sprach er mit einem Hauch Besorgnis.
Mir war nicht reden zumute, nicht mit ihm.
Mein Herz wusste nicht wohin, doch mein Verstand schlug mich innerlich, hier zu sitzen.
"Wie lange noch?", fragte ich genervt und stellte fest, dass wir einen völlig anderen Weg als den eigentlichen fuhren.
"Nicht lange."
[...]
"Ich hab wirklich keinen Nerv mehr für sie."
"Lass uns später reden", flüsterte jemand Bekanntes.
"Nein. Seit Monaten geht mir dieses Mädchen auf den Zeiger. Ich will sie hier nicht haben."
"Wie oft haben wir darüber schon diskutiert?"
"Ganz ehrlich, übertreibt nicht. Mama, sie hat keine Wohnung und ist zu jung, um selbst auf Beinen zu stehen."
Fassungslos über dieses Gespräch lehnte ich mich an die Wand und zog meine Knie an mich. Ich hätte es ahnen müssen, doch war blind vor Glück.
"Soll sie bei Erdem wohnen oder was?", zischte nun die Stimme meines Bruders.
"Sie hat vorhin bei ihm gewohnt. Wer weiß Gott, was beide unter einem Dach allein getrieben haben."
Im Hinterkopf tauchte Erdem auf. War ich in seinem Auto eingeschlafen?
Und war das eben nicht offensichtlich, dass ich gemeint bin, die hier unerwünscht ist? Bitte was? Was wir getrieben haben?
Mein Kopf brummte und mein Körper fühlte sich schlapp. Wieder dieses Hundertachtzigdrehen meines Schicksalrades.
Eine Stunde verging voller Gedanken. Wie und wo soll ich hin? Wieso mich die Sache so kalt ließ, wusste ich nicht, doch im Inneren wusste ich, dass meine Eltern beziehungsweise meine Mutter damit nicht einverstanden ist, mich aufzunehmen. Schon von Anfang an.
Mein Handy klingelte wie aus dem Nichts. Unüberlegt nahm ich ab und hörte seine Stimme, die mein Herz wieder zum rasenden Klopfen brachte.
"Was machst du?"
"Nichts du?"
"Tarik kommt gleich. Ich komme dich später abholen, ist das okay?"
"Erdem-
"Nein. Du sagst seit Wochen ab, also um 18?"
"Um 18", atmete ich aus und legte auf, als er sich verabschiedete.
Mit einer warmen Dusche lenkte ich mich ab und cremte mich anschließend sorgfältig ein.
Eine Jeanshose mit einer Bluse und Cardigan würde reichen. Meine Haare würde ich offen tragen und schminken ließ ich nur beim Concealer, mehr nicht. Ich war froh über meine Augenbrauen, die ich garnicht zu malen brauchte, da sie so perfekt und voll waren. Meine großen Augen brauchte ich ebenfalls nicht schminken, doch ich kam dennoch zum Entschluss, meine Wimpern zu tuschen.
Nur meine Mutter war zuhause, doch mit ihr kam ich, wie gewohnt, nicht ins Gespräch.
"Wieso so schick?", fragte sie und sah sich mein Outfit genauer an.
"Erdem kommt", piepste ich knapp und zog mir die weißen Chucks an.
Irgendwie ging es mir einfach nur schlecht, dass ich immernoch so unerwünscht bin. Ich dachte, es sei alles wie früher, auch das Verhältnis.
Mit einem dicken Kloß im Hals wartete ich ein wenig und packte die wichtigsten Sachen in meine Tasche und sah, dass es schon 18:13 Uhr war. Eilig ging ich zur Tür und entdeckte Erdem eine rauchen. Ein leichtes Lächeln zierte seinen Gesicht, doch augenblicklich sah er wieder besort aus, als er meine Sieben-Tage-Regen Miene im Gesicht sah.
Ein letzter langer Atemzug durchdrang meine Lunge, ehe ich in seine Arme lief und ihn fest drückte.

ÖzlemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt