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"Lias! Komm jetzt endlich von dem Baum runter!" Frau Plommer steht mit hochrotem Kopf auf der nahegelegenen Wiese des Heims, dass, seitdem ich denken kann, mein Zuhause ist. "Nein!" Ich grinse ihr frech ins Gesicht und lehne mich mit dem Rücken gegen den dicken Stamm.

Die Sonne geht langsam unter, die Luft ist kühl und riecht nach Regen. "Du machst mich noch wahnsinnig!", faucht sie mir entgegen, was mich allerdings nur schmunzeln lässt. Ich schließe meine Augen und genieße die Zeit, bis Jonathan geholt wird.

Jonathan ist einer der Betreuer. Er ist saucool, für jeden Spaß zu haben und der beste Betreuer, den das Heim zu bieten hat. Ich mag ihn wirklich sehr und sehe ihn fast schon als den großen Bruder an, den ich nie hatte.

Frau Plommer, die darauf besteht, dass man sie beim Nachnamen nennt, zieht nach ein paar weiteren Minuten motzend ab. Mit diesem weiblichen Wesen werde ich einfach nicht warm. Ihre Vorstellungen von Kindererziehung gleichen denen aus dem Mittelalter, obwohl die Gute erst Mitte vierzig ist. Mich würde sie am liebsten in einen Käfig sperren, der in einem verbarrikadierten Keller steht, da ich laut ihrer Aussage schlimmer als ein Sack Flöhe bin.

"Lias! Du sollst doch Frau Plommer nicht immer ärgern!" Meine Mundwinkel schießen sofort in die Höhe, als die raue Männerstimme in meinen Ohren ertönt. "Ich ärgere sie doch gar nicht! Ich kann nichts dafür, dass sie nicht auf Bäume klettern kann", erwidere ich ganz gelassen, denn Jonathan wird fast nie sauer oder laut. "Es wird Zeit für deine Medikamente, Kleiner. Kommst du runter?" Sofort fallen meine Mundwinkel wieder eine Etage tiefer. "Lias, ich weiß, dass du es satt hast, jeden Tag diese Tabletten zu schlucken und zu inhalieren, aber du weißt, dass es notwendig ist, mh?"

Natürlich weiß ich das, es ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich darauf keine Lust mehr habe.

"Kann ich nochmal zu Anton?"
"Ich schau mal, was sich machen lässt, okay?" "Nein! Ich will Anton nochmal sehen! Er geht morgen und dann sehe ich ihn nie wieder!", maule ich bockig vor mich hin und verschränke die Arme vor meiner Brust. "Quatsch, Lias. Ihr könnt euch doch gegenseitig besuchen. Er wohnt nicht am anderen Ende der Welt. Jetzt komm schon!" "Wir wissen beide, dass er nie wieder hierher kommen wird. Er wird mich in seinem neuen Leben vergessen und andere Freunde finden. Das war bei Samuel genauso!"
"Lass den Kopf nicht hängen, Lias. Anton ist anders als Samuel! Wenn wir uns jetzt beeilen und du mit deiner Inhalation fertig bist, dann kannst du noch ein bisschen zu deinem Kumpel, okay?" Jonathan breitet seine Arme aus, bereit mich aufzufangen. Die Verlockung, mich noch mit Anton treffen zu können, ist groß, deshalb lasse ich mich von dem Baum gleiten und direkt in die Arme des Betreuers fallen.

Nachdem er mich behutsam auf dem Boden abgestellt hat, laufen wir zu dem Wohngebäude zurück.
"Wie geht es dir heute?", will mein Nebenmann wissen und stößt mich leicht mit der Schulter an. "Heute nicht ganz so gut. Aber das ist ja auch nichts Neues!" In den letzten Wochen haben die krankheitsbedingten Bauchschmerzen und die manchmal auftretende Atemnot zugenommen. Dadurch muss ich wieder mehr Tabletten als üblich schlucken und auch das Inhalieren hat sich den Tag über verteilt erhöht. "Da sollten wir mal noch mit deinem Doktor Rücksprache halten, mh? Das ist auch kein Zustand, wenn es dir andauernd schlecht geht!" Meine Antwort besteht lediglich aus einem Schulterzucken.

An meiner Krankheit lässt sich leider nichts ändern und die dadurch entstehenden Begleiterkrankungen nicht vermeiden. Das Schlimme daran ist, dass ich genau genommen jeden Tag sterben könnte. Am meisten Angst habe ich vor dem Ersticken, denn das ist gar nicht so abwegig bei Mukoviszidose. Auch wenn Jonathan mich täglich versucht aufzumuntern oder von der Tatsache abzulenken, ist der Gedanke immer präsent. Darum haben Anton und ich eine Bucket-List für mich erstellt, auf der unter anderem auch einige gemeinsame Punkte stehen. Die werde ich dann wohl ab morgen mit neuen Zielen austauschen müssen.

Lias will glücklich seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt