Mit vollgeballerten Kopf laufe ich mit Stephan zu unserem Streifenwagen zurück. Dort angekommen, hält mich mein Freund und Kollege vor dem Einsteigen zurück: "Alles klar, Paul?" "Keine Ahnung. Muss das erstmal alles verdauen... Hast du Simon ordentlich den Marsch geblasen?" "Das war gar nicht nötig. Der hat sofort gewusst, was Sache ist und hoch und heilig versprochen, dass er nie wieder Lottas Pudding klauen wird. Hahaha. Er hat mir irgendwie schon leid getan. Aber die Kleine ist der reinste Wasserfall. Da fällt dir fast das Ohr ab!" "Ja, das habe ich gerade gemerkt. Da geht das Göschchen ohne Punkt und Komma. Boah, lass uns zurück fahren... Ich brauche jetzt erst mal eine ordentliche Ladung Koffein!" Herr Sindera nickt zustimmend und äußert anschließend einen wundervollen Vorschlag: "Heute Abend Lust auf ein Bierchen? Wenn du willst, können wir dann auch über Lias reden!" "Hört sich gut an. Dann lass und mal den restlichen Dienst hinter uns bringen!"
~~~~
Nachdem wir unsere Uniform endlich gegen unsere Alltagsklamotte eintauschen konnten, fahren wir zwei Blocks weiter in eine kleine gemütliche Kneipe. Der etwas versteckte Treffpunkt liegt in einer Seitenstraße und lebt mehr oder weniger von seinen Stammkunden.
Stephan wählt einen Tisch, der etwas abseits steht und bestellt auch sofort bei Uli, der Inhaberin, zwei Bier. Ich lasse mich ächzend auf einen der alten Holzstühle nieder und könnte anhand der Geräusche denken, dass mich die Sitzgelegenheit nachäffen will. "Mensch ich bin fix und fertig. Als hätte ich heute zwanzig Einsätze hintereinander alleine bewältigen müssen!" Ich fahre mir mit meinen Händen durch die Haare und schließe für einen kurzen Augenblick die Augen. Dieser Moment, in dem ich mich auf Feierabend einstelle und versuche, mich endlich ein klein wenig zu entspannen, hält nicht lange an, denn Uli scheint heute sehr auf Zack zu sein und stellt uns auch sofort die bestellten Getränke vor die Nase: "Ach, Paulchen. Du siehst heute aber überhaupt nicht gut aus. Muss Uli dir ein wenig Nervennahrung zaubern?" "Ne, du. Zu futtern brauche ich nichts. Trotzdem danke!" Uli reißt die Augen weit auf und wendet sich Stephan zu: "Was hast du mit ihm angestellt? Er schlägt sonst niemals meine legendären und unübertrefflichen Sandwiches aus!" "Mich trifft keine Schuld! Ehrlich!" Stephan verteidigt sich natürlich sofort und weicht mitsamt dem Stuhl zurück, denn wenn die Kneipenbesitzerin schlechte Laune bekommt, ist mit ihr nicht mehr gut Kirschen essen. Sie deutet anhand ihres Zeige- und Mittelfingers an, dass sie uns im Blick behält und folgt dem Schrei nach Nachschub, der zwei Tische weiter ihre Aufmerksamkeit fordert.
"Zum Wohl!" Ich erhebe meine Flasche und lasse es etwas schwungvoll gegen die meines Kollegen stoßen. "Hey, nicht so stürmisch!", lacht mir der Schwarzhaarige entgegen und gönnt sich im Anschluss einen Schluck vom wohltuenden, arschkalten Bier.
"Was denkst du über die Sache mit Lias?" Stephan bringt sofort den Stein ins Rollen, da er natürlich neugierig ist, was in meinem Köpfchen vorgeht. Auf der Arbeit hatten wir keine Gelegenheit mehr, dieses Thema aufzugreifen. "Keine Ahnung .... Ich bin total überfordert. Schon alleine die Tatsache, dass ich nicht mitbekommen habe, dass ich einen Neffen habe, macht mich irgendwie fertig. Als ob das nicht genug wäre, nein. Dann ist er auch noch schwer krank und muss in einem Heim leben, da meine Schwester nicht fähig ist, sich um ihr eigenes Kind zu kümmern. Das macht mich wütend. Wütend und fassungslos!" "Das kann ich gut verstehen. Was machst du jetzt?" "Wenn ich das nur wüsste .... Lias tut mir wirklich leid und eigentlich stehe ich in der Pflicht, mich um ihn zu kümmern. Aber was ist, wenn ich das nicht kann? Ich weiß wirklich nicht, ob ich täglich den Gedanken ertragen kann, dass er jederzeit sterben könnte!" Ich fahre mir mit der Hand durch mein Gesicht, denn diese Tatsache nagt wirklich extrem an mir.
"Dieser Gedanke wird dich vermutlich ab jetzt immer begleiten. Egal ob du Kontakt mit ihm aufnimmst oder nicht. Hört sich jetzt vielleicht blöd an, aber wenn du keine Bindung zu ihm aufbauen möchtest, dann wird dich das noch viel mehr beschäftigen, da du nie weißt, wie es ihm tatsächlich geht."Ich genehmige mir einen großen Schluck von meinem Bier und starre auf einen Kratzer auf der Tischplatte: "Was ist, wenn ich mich für ein Kennenlernen entscheide und dann doch nicht geschaffen für diese ganze Sache bin? Wenn ich ihm keine Stütze sein kann und mit diesem ganzen Medikamentenkram und Inhalationszeug nicht zurecht komme?" "Ach, Paul. Schau mal, Lias ist doch kein Baby mehr. Er kann dir seine Bedürfnisse mitteilen und wird weitestgehend selbstständig sein. Daran sollte es nicht scheitern. In alles andere müsstest du dich eben einfinden. Du wirst ja auch nicht von heute auf morgen ins kalte Wasser geschmissen und komplett auf dich alleine gestellt sein. Die ersten Treffen, falls es so weit kommt, könntest du im Heim stattfinden lassen. So kannst du dir über die Routine mit den Tabletten und was es sonst noch alles zu tun gibt, einen Überblick verschaffen. Dieser Jonathan wird dir das dann sicherlich auch haargenau erklären. Wenn du dir sicher bist, könnt ihr dann ja auch mal einen Ausflug wagen. Was danach kommt, kann keiner vorhersehen, sondern muss getestet werden. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir nach Lias' kleiner Showeinlage heute Mittag gar nicht vorstellen, dass es mit euch beiden nicht klappt!"
Nach einem weiteren Schluck Bier atme ich laut auf und lehne mich in meinem Stuhl zurück: "Ich lass mir das mal durch den Kopf gehen. Momentan herrscht zu viel Chaos in mir, um irgendetwas zu entscheiden!" Tief in meinem Inneren weiß ich, dass ich den Jungen nicht einfach ignorieren werde, denn er ist ein Teil meiner Familie und das Schicksal hat es bisher wirklich nicht gut mit ihm gemeint. Allerdings weiß ich noch nicht, wie ich das alles bewerkstelligen soll. "Ich bin jederzeit für dich da!" Stephan nimmt sein Bier in die Hand und fuchtelt damit in meinem Sichtfeld herum, damit ich mich von meinem Gedankengefängnis löse und mit ihm anstoße. Den restlichen Abend lassen wir mit Gesprächen über allerlei Alltagskram ausklingen.
Kaum bin ich zuhause und liege im Bett, befrage ich das Internet über Lias' Krankheit. Ich weiß gar nicht genau, was hinter dem Namen Mukoviszidose steckt. Zwar hat meine Schwester ebenfalls dieses Leiden, aber ich habe mich nie darum geschert, da wir kein gutes Verhältnis zueinander hatten. Unsere Mutter meinte früher immer nur, dass Corinna krank ist und es eben Phasen gibt, in denen es ihr schlecht geht und dass es irgendwann auch wieder besser wird. Sie musste ebenfalls viele Tabletten einnehmen, damit sie einigermaßen gut klar kam. Als ich dann irgendwann herausbekommen habe, dass sie Drogen nimmt und Unmengen von Alkohol trinkt, habe ich versucht, sie zur Besinnung zu bekommen. Durch diese Substanzen konnten die Tabletten ihre Wirkungen nicht mehr entfalten. Ich habe ihr meine Hilfe angeboten, wollte sie sogar bei mir aufnehmen, damit sie aus diesen üblen Kreisen herauskommt, doch sie wollte nicht. Sie hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Eines Abends, nachdem sie unter Entzugserscheinungen vor meiner Türe stand und mich angebettelt hat, ihr Geld zu geben, habe ich sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie lässt sich von mir helfen und nimmt einen Entzug in Angriff oder sie soll ihrer Wege und im Drogensumpf zu Grunde gehen. Wer hätte gedacht, dass sie sich wirklich für die Drogen entscheiden würde... Seitdem habe ich sie nie wieder gesehen.
Dass Lias "nur" mit dieser Krankheit bestraft wurde, grenzt für mich fast an ein Wunder. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass sie während ihrer Schwangerschaft clean gewesen ist. Genau kann ich das jedenfalls nicht beurteilen und bin eigentlich nur froh, dass der Junge nicht noch mehr bestraft wurde.
Nach den ganzen Recherchen bin ich total durch. Ich habe viele Erfahrungsberichte, hauptsächlich von Müttern, gefunden in denen gesagt wurde, dass es viele anstrengende Phasen gibt, aber auch ein fast normaler Tagesablauf möglich ist. Wenn man von Tabletten und Inhalationen absieht. Man muss sich mit dem Kind einfach nur seine eigene Routine erschaffen. Für mich besteht ein kleiner Vorteil, da Lias in einem gewissen Alter ist, in dem er schon die Notwendigkeiten der Behandlung versteht. Jetzt stellt sich mir allerdings die Frage, ob ich als Mann das gleiche Leisten kann, wie eine Frau, die von Anfang an mit dem Kind und der Aufgabe wächst. Bisher war ich nur für mich zuständig, habe oft Junkfood bestellt und eigentlich nur dafür sorge tragen müssen, dass ich irgendwie den Tag überlebe.
Ich reibe mir ein paar Mal über die müden Augen und schmeiße das Handy auf die leere Bettseite neben mir. Nachdem ich meine Augen geschlossen habe, höre ich tief in mich hinein und versuche irgendwo in mir drin eine Antwort darauf zu finden, was ich jetzt tun soll.
Mein Kopf steckt voller Chaos und will zu überhaupt keinem Ergebnis kommen. Mein Herz dagegen, hat eine klare Aussage für mich parat: Lias gehört zu dir und du wirst dich um ihn kümmern. Er hat es verdient, denn er musste schon viel zu lange alleine sein Leben meistern.
Mit dem Gedanken, dass ich von nun an den Posten eines Onkels einnehmen und dieses Kind nicht mehr alleine seinem Schicksal überlassen werde, schlafe ich letztendlich ein.
![](https://img.wattpad.com/cover/351348237-288-k347513.jpg)
DU LIEST GERADE
Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...