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Die drei Spielkinder haben es geschafft, ungefähr die Hälfte des Legogebilde zu bauen, als Lias immer mal wieder das Gesicht verzieht. Ich befürchte, dass er bald das Dauerticket für den Badezimmerthron einlösen kann. Auch meinen Kumpels entgehen die schmerzverzerrten Gesichtszüge nicht und schlagen vor, ein anderes Mal mit dem Lego weiter zu machen. Lias willigt ein und nimmt schwer aufatmend die Wasserflasche von mir entgegen, da er viel trinken muss. Nach ein paar Schluck rumort sein Bauch in den höchsten Tönen. "So, ihr zwei. Wir verkrümeln uns mal und gehen eine Runde schlafen. Wir sehen uns bald wieder", verkündet Stephan und hält die Hand nach oben um von Lias einen High-Five zu bekommen. Mein Neffe geht darauf ein und widmet sich danach Tom, der natürlich auch die kleine Handfläche auf seiner großen begrüßen darf.

Als wir alleine sind, legt sich Lias in Embryostellung auf sein Bett. "Hast du solche Schmerzen?", will ich wissen und bin gewillt einen Arzt aufzusuchen, denn das leidende Gesicht meines Neffen macht mir ordentlich zu schaffen. "Schon. Aber das wird nachher besser. Das ist so Zeug, dass kurzen Prozess macht. Früher habe ich oft ein Pulver in Etappen trinken müssen, von dem ich fast kotzen musste. Da nehme ich lieber die Bauchkrämpfe in Kauf, als diese ekelhafte Brühe zu trinken!" "Falls es aber zu schlimm wird, sagst du mir Bescheid!"
Lias bedenkt mich mit einem Lächeln und schließt kurz die Augen. Das ist wieder ein Moment, in dem er sehr, sehr stark und älter wirkt, als er ist und nicht wie ein zehnjähriger Junge. Damit die Stille uns nicht erdrückt, spreche ich ein Thema an, das mir schon das ein oder andere Mal im Kopf herumgeschwirrt ist: "Weißt du noch, als du mich im Revier besucht hast? Da hattest du doch einen Rucksack dabei und da lag ein Heftchen drin..." Lias öffnet wieder seine Augen und sucht meinen Blick: "Du hast in meinen Sachen herum geschnüffelt?" "Zwangsweise. Ich wusste doch nicht, in welchem Heim du wohnst und musste nachschauen, ob sich irgendwelche Hinweise finden lassen. Ansonsten hätte ich das natürlich nicht gemacht", versichere ich ihm, da ich nicht möchte, dass er falsche Schlüsse daraus zieht. "Dann hast du sie gefunden, oder?" "Sie?", frage ich verwirrt. "Ja, die Bucket-List." Ich nicke kurz vor mich hin und entlocke meinem Neffen damit ein seufzen: "Das sollte eigentlich niemand außer Anton und mir wissen, weil sonst alle wieder ein Drama daraus machen. Weißt du, mir hilft die Liste, jeden Tag durchzuhalten und auf Ziele hinzuarbeiten. Das gibt mir immer wieder den Mut, mich durch den ganzen Mist mit meiner Krankheit durchzukämpfen. Verstehst du?", will er wissen und sieht plötzlich so ernst aus.

Wenn ich bedenke, dass es so viele Menschen gibt, die einfach in den Tag hinein leben und keinerlei Ziele für sich selbst gesetzt haben und dieser kleine Junge den Ansporn braucht, jeden Tag aufs Neue zu meistern, stimmt mich das wieder sehr traurig. Lias scheint nicht zu verstehen, warum ich so erschüttert auf die Liste reagiere: "Warum guckst du denn jetzt so traurig? Es heißt nicht, dass ich plötzlich tot umfalle, wenn ich alle Punkte erledigt habe. Aber ohne diese Ziele fühlt es sich so an, als würde ich jeden Tag umsonst kämpfen. Anton versteht das auch nicht so richtig und weint fast jedes Mal, wenn ein Punkt abgehakt wird. Aber er kann auch nicht über den Tod reden, davor hat er viel zu viel Angst!" "Hast du denn keine Angst, Lias?" Ich komme mir blöd vor, diese Ffage einem Kind zu stellen, doch in dieser Hinsicht kann ich Lias nur schlecht einschätzen. Zuerst zuckt der Kurze mit den Schultern und überlegt eine Zeit lang, bis er die passenden Worte gefunden zu haben scheint: "Schon ein bisschen. Aber eher habe ich Angst, dass ich einen blöden Tod erleben muss, weißt du. Ja, ich weiß, jeder Tod ist blöd, aber ich meine damit, dass ich zum Beispiel nicht gerne ersticken würde. Das wäre mehr als blöd. Manche alte Menschen schlafen einfach ein und wachen nie wieder auf und das sehe ich dann als schönen Tod. Schätzungsweise darf ich das mal nicht... er... le... ben..." Schneller als ich gucken kann, springt Lias von seinem Bett auf und verschanzt sich im Badezimmer. Das Mittel scheint endlich anzuschlagen.

Ich selbst stehe ebenfalls auf und begebe mich an die große Fensterfront. Die Gänsehaut auf meinen Armen, die durch Lias' Worte ausgelöst wurde, hat noch Bestand. Vielen Erwachsenen fällt es wahnsinnig schwer über das Ende des eigenen Lebens zu reden, doch Lias geht damit so um, als würde er mir sagen, was er gerne zum Abendessen haben möchte. Ich weiß nicht, wie ich das genau einstufen soll. Mit Erleichterung, da er nicht jeden Tag Panik schiebt, dass er früher sterben wird als andere oder eher mit Besorgnis, da er es leichter nimmt als er sollte.

Lias will glücklich seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt