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"Haben Sie etwas dagegen, wenn wir an die frische Luft gehen und ein paar Schritte laufen?" Die Frage des Betreuers lässt mich innerlich aufatmen. Frische Luft ist immer gut und hilft mir vielleicht dabei, wieder einen klaren Kopf zu bekommen: "Nein, nein. Sehr gerne sogar!" Ich folge Jonathan durch das Gebäude, bis wir im Freien ankommen.

In dem groß angelegten Garten, der ein Klettergerüst und eine Schaukel beherbergt, tummeln sich einige jüngere Kinder. Eine etwas streng aussehende, ältere Dame beäugt die Kinder und zischt hier und da mal ein Kind an.

"So, Herr Richter. Sie sind also der Onkel von unserem Lias..." "Ja, anscheinend schon!" Ich grinse dem Betreuer entgegen und zucke leicht mit den Schultern. "Entschuldigen Sie meine Neugier, aber wie kommt es, dass Sie nichts von ihrem Neffen wissen?" "Tja.. Seine Mutter und ich haben uns vor etwa zwölf Jahren ziemlich heftig in die Wolle bekommen und seitdem kein Wort mehr miteinander gewechselt. Ich weiß auch nicht genau, wo sie sich aufhält und wie es ihr geht. Anhand dieser Tatsache wundert es mich nicht, dass sie mir nichts von der Geburt ihres Kindes erzählt hat. Kommt Sie Lias denn ab und zu besuchen? Seit wann ist der Kleine denn hier und vor allem, warum?" Ich hoffe, ich überfahre Jonathan nicht mit meinen ganzen Fragen, aber ich hätte dann doch gerne ein paar Informationen über den kleinen Mann. "Lias ist seit seinem vierten Lebensjahr bei uns. Seine Mutter stand eines Tages einfach vor der Türe und hat ihn hier abgegeben. Laut den Akten ist sie darauf für einige Monate verschwunden und hat nichts mehr von sich hören lassen. Nach geschlagenen zwei Jahren hat sie sich telefonisch bei der Heimleitung gemeldet, da sie wissen wollte, wie es ihrem Sohn geht. Seitdem ruft sie sporadisch an und erkundigt sich nach dem Jungen. Ab und zu trudeln auch mal Briefe für Lias ein. Das war es aber auch schon!" "Okay..." Mich trifft diese Aussage wirklich sehr, denn wenn ich von meinem Neffen gewusst hätte, hätte man dem Jungen einiges ersparen können. Vielleicht hätte ich ihm irgendwie helfen oder sogar bei mir aufnehmen können.

"Im Normalfall stellt das Heim doch aber Nachforschungen an, um eventuelle Familienmitglieder ausfindig zu machen. Ich verstehe nicht, warum ich nicht gefunden wurde." "Dazu kann ich Ihnen leider nicht viel sagen. Ich arbeite hier erst seit vier Jahren. Tut mir leid!" "Sie können nichts dafür, schon gut.... Hat Lias denn Freunde hier?" "Der Kleine hat einen etwas eigenen Kopf und lässt nicht jeden an sich ran. Er hat zwei Jungs zu seinen Freunden auserkoren. Der erste wurde vor einem Jahr adoptiert und hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Der andere, den sie auch auf den Bildern in Lias' Zimmer gesehen haben, ist gestern morgen abgeholt worden. Er hat ebenfalls eine Familie gefunden. Das hat Lias das Herz gebrochen!"
Mir wird bei diesen Worten ganz schlecht. Der Junge scheint ganz alleine dazustehen, ohne Rückhalt und ohne richtig vertraute Personen.

Jonathan bleibt abrupt stehen und sieht mir tief in die Augen: "Hören Sie... Es freut mich, dass es doch noch jemanden gibt, der zu Lias' eigentlicher Familie gehört, aber... Ich möchte sie bitten, genau zu überlegen, was sie wollen! Der Junge ist krank und diese Erkrankung nimmt viel Zeit in Anspruch. Er muss täglich mehrere Tabletten einnehmen, vier Mal täglich inhalieren, er muss auf seine Ernährung achten, muss aufpassen, dass er sich keine Infekte einfängt.... Es ist zeitaufwendig und nervenaufreibend. Ich möchte, dass Sie sich bitte im Vorfeld Gedanken darüber machen, inwieweit sie in Lias' Leben treten möchten. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wenn Sie ihm Hoffnungen machen und ihn nachher dann doch fallen lassen, da es alles zugegebenermaßen anstrengend ist, tun sie dem Jungen keinen Gefallen. Nehmen Sie mir meine Worte nicht übel, aber er ist ein toller Junge und hat es nicht verdient, noch weiteren Kummer und Zurückweisung ertragen zu müssen. Er hat es schon schwer genug!"

Die Worte des Betreuers haben gesessen. Natürlich würde ich niemals mit den Gefühlen des Jungen spielen, aber mir wird gerade bewusst, dass es hier nur ein Ganz oder gar nicht gibt.

Lias will glücklich seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt