~•~ 8 ~•~

423 60 18
                                    

Jonathans Sicht

Nach meiner Schichtübergabe packe ich meine sieben Sachen zusammen und mache mich nochmals auf den Weg, um mich für heute von Lias zu verabschieden. In den letzten fünf Tagen ist der Kleine stiller geworden und zieht sich immer mehr zurück. Ob das an der Tatsache mit dem Besuch bei seinem Onkel liegt oder ihm sein bester Freund Anton fehlt, kann ich nicht genau sagen. Vermutlich trifft beides zu.

Wenn einer von uns Betreuern bei ihm ist, lächelt er annähernd wie früher und lässt sich kaum etwas anmerken. Da wir ihn aber alle gut genug kennen, fallen uns natürlich die Veränderungen trotzdem auf. Er redet kaum noch und wenn, dann lässt er keine lustigen oder abgebrühten Sprüche mehr von sich hören. Er zieht sich immer an Orte zurück, an denen er alleine und etwas abgeschottet von den anderen Kindern ist. Seine Augen strahlen nicht mehr in der Intensität, in der sie es noch vor ein paar Tagen getan haben, und seine Mundwinkel werden nur noch aus Gewohnheit und nicht mehr aus Überzeugung in die Höhe gehoben.

Nachdem ich an seiner Türe angeklopft und diese geöffnet habe, finde ich ein leeres Zimmer vor. Um Lias jetzt auf dem ganzen Gelände zu suchen, fehlt mir schlichtweg die Zeit, da ich noch einen Termin habe und dort gerne pünktlich erscheinen möchte. Seufzend wende ich mich wieder dem Flur zu und stoße fast mit Fabius zusammen: "Hoppla. Was hast du es denn so eilig?" "Hi, Jona. Ich muss kurz in mein Zimmer!" Anscheinend hat er es ziemlich eilig, denn er rennt, ohne sich umzudrehen, weiter. "Fabius! Warte mal kurz. Hast du Lias irgendwo gesehen?"
"Ich glaube, der hängt wieder auf seinem Baum ab!", wirft er mir genervt zu. Im nächsten Moment flitzt Ramon an mir vorbei und scheint die Verfolgung aufzunehmen. Mir ist gleich klar, dass irgendein krummes Geschäft gelaufen sein muss, aber das überlasse ich getrost meinen Kollegen und mache mich lieber schnell auf den Weg, um nach Lias zu schauen, da ich jetzt weiß, wo genau ich suchen muss.

Schon von weitem sehe ich ihn auf seinem Lieblingsplatz sitzen. Die Predigten, dass er nicht auf diesem Baum herumklettern soll, habe ich längst aufgegeben, denn das scheint sein eigener Rückzugsort geworden zu sein und den will ich ihm nicht auch noch nehmen. "Na, genießt du die Aussicht?" Lias zuckt nicht einmal zusammen, als ich wie aus dem Nichts erscheine, sondern starrt nur geradeaus. "Mhm. Was willst du? Muss ich schon rein?" "Nein, du hast noch ein bisschen Zeit. Ich wollte dir nur Tschüss sagen!" "Wer hat Dienst?" Lias verzieht kaum merklich das Gesicht, da er mich am liebsten rund um die Uhr bei sich hätte. "Ronny, Carlos, Michaela und Carmen!" "Na toll.... Wie ist Ronny drauf?" Lias seufzt schwer auf und lenkt seinen Blick auf mich. Er und Ronny harmonieren überhaupt nicht miteinander und sobald die beiden aufeinander treffen, gibt es jedes Mal Ärger. "Ganz gut eigentlich. Carlos hat mir aber gesagt, dass er nach dir schauen wird und mit dir deine Inhalationen macht, okay?" Ich hoffe, dass mein Kollege sein Wort hält und sich um Lias kümmert, denn noch mehr negativen Input würde ich meinem Schützling gerne ersparen. "Wann kommst du wieder?" "Morgen. Hältst du das so lange aus?" "Ich habe keine andere Wahl. Hast du irgendetwas von Anton gehört?" Lias kennt die Antwort auf die Frage schon, bevor ich überhaupt etwas sagen muss, denn er atmet schwer auf und fängt an, an der Rinde des Baums herumzupulen. "Lass ihm noch etwas Zeit. Er muss sich auch erst an sein neues Umfeld gewöhnen. Ich bin mir sicher, dass er sich noch melden wird. Lass den Kopf nicht hängen!" Mir schmerzt mein Herz bei diesen Worten und ich hoffe sehr, dass sich meine Vermutung bewahrheitet. Denn wenn sich Anton nicht mehr melden wird, bricht für Lias seine kleine restliche Welt zusammen.

Auf eine Antwort warte ich vergebens. Am liebsten würde ich jetzt hier bleiben und Lias trösten, aber die Zeit drängt langsam und ich muss mich auf den Weg machen: "Bleib nicht mehr zu lange, bald gibt es Abendessen. Wir sehen uns morgen, Kleiner. Sei anständig!" "Okay! Bis morgen!", haucht er mir entgegen und lehnt sich entspannt gegen den Baumstamm, um die Augen zu schließen.

Schweren Herzens trete ich meinen Rückzug an und versuche mich wieder auf Normalmodus einzustellen, was fast unmöglich ist. Als ich diesen Job hier angenommen habe, wurde mir von der Heimleiterin nahegelegt, das Ganze ausschließlich als Job anzusehen. Ich solle mich emotional nicht zu sehr auf die verschiedenen Schicksale einlassen und keine engere Bindungen aufbauen. Warum sie das gesagt hat, ist mir klar. Dass meine Kollegen das teilweise auch problemlos hinbekommen, ist mir bewusst. Aber ich kann nicht anders, als den Kindern auf menschlicher Ebene zu begegnen, denn wenn wir ganz ehrlich sind, verkümmern die zarten Seelen in einem Heim so oder so. Die wenige Zuwendung, die sie bekommen können, möchte ich ihnen geben, da es sonst keiner tut. Sie brauchen einen vertrauten Umgang, jemanden, der Sie als das sieht, was Sie sind: Als Kinder und nicht als Arbeit. Das mir das manchmal zum Verhängnis wird, besonders bei Lias und Lotta, nehme ich deshalb einfach in Kauf.

Kaum sitze ich in meinem Auto und habe den Motor gestartet, wird der Innenraum von harten Bässen durchströmt. Zumindest kann ich mir so ein paar Minuten die Gedanken aus meinem Gehirn blasen und mich auf mein nächstes Vorhaben konzentrieren.

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, doch Lias' Onkel hat sich schon zwei Tage nach seinem plötzlichen Erscheinen telefonisch bei mir gemeldet. Er hatte enorm viele Fragen, schien sich tatsächlich Gedanken um seinen Neffen gemacht zu haben und wollte sich gerne mit mir treffen, um einige Dinge zu besprechen. Damit mein Sorgenkind das nicht gleich mitbekommt und sich eventuell falsche Hoffnungen macht, habe ich Herrn Richter ein Treffen außerhalb des Heims vorgeschlagen. Ohne auch nur ein Gegenwort, hat er meine Bitte akzeptiert und sich den heutigen Abend freigeschaufelt. Damit ich mir nicht nur von ihm als Person, sondern auch ein kleines Stück Einsicht in sein Umfeld erhaschen kann, treffen wir uns bei ihm zuhause.
Ich bin sehr gespannt, was auf mich zukommt, halte meine Erwartungen jedoch auf geringstem Niveau. Manchmal geben sich Menschen anders als sie sind und das anfängliche Interesse ebbt nach solchen Gesprächen wieder ganz schnell ab.

__________________________________
Heute gibt es nochmal ein Kapitel hinterher. Aber nur, weil ich heute Nacht nicht schlafen konnte🤣🤣🤣. Viel Spaß und bis morgen. 💙💚💙💚💙Eure Rojo 💙💚💙💚💙

Lias will glücklich seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt