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Pauls Sicht

Während ich neben Jonathan herlaufe, beobachte ich Lias' Gesicht, das immer wieder leichte Grimassen bildet. Dass er schläft, habe ich schon von Anfang an nicht geglaubt, sondern bin davon ausgegangen, dass er jetzt einfach seine Ruhe haben möchte, um das Ganze zu verdauen.

Der zierliche Körper beginnt sich in unregelmäßigen Abständen anzuspannen und während jeder dieser Phasen wird Lias' Gesicht ziemlich rot. "Lias, du sollst das Husten nicht unterdrücken. Das weißt du doch!", schimpft Jonathan vor sich hin und läuft ein paar Schritte schneller, um in das Gebäude zu gelangen. Als der Bursche das nächste Mal seinen Hustenreiz unterdrückt, brummt er zusätzlich ganz komisch vor sich hin und reißt dann urplötzlich seine Augen weit auf. "Atmen Lias! Wir sind gleich auf deinem Zimmer. Bleib ganz ruhig und versuche zu atmen!" Das mit dem "ruhig" klappt ganz und gar nicht, denn mein Neffe röchelt vor sich hin und krallt sich in dem Oberteil seines Betreuers fest, worauf ihm die Panik ins Gesicht geschrieben steht. Jetzt werde ich ebenfalls nervös, da ich nicht genau weiß was los ist und ich dem Jungen absolut keine Hilfe sein kann.

In Lias' Zimmer angekommen, setzt der Betreuer meinen Neffen auf dem Bett ab und streicht ihm immer wieder über den Rücken: "Du musst den Schleim abhusten. Ich höre doch, dass du kaum Luft bekommst. Los, Lias, so wie sonst auch!" Bei dem darauffolgenden Atemzug hört man richtig, dass sich eine Menge Sekret gelöst haben muss und daher wundert es mich auch nicht, dass in der nächsten Sekunde ein lautes Würgen zu hören ist. Noch bevor Jonathan Worte aus seinem geöffneten Mund entweichen lassen kann, übergibt sich Lias im hohen Bogen direkt auf seine Hose.

"Paul, kannst du uns bitte ein Handtuch aus dem Badezimmer holen?" "Klar!" Ich bin froh, endlich etwas unternehmen zu können und stürme sofort auf die besagte Türe zu. In dem minimalistischen Bad gibt es ein kleines Schränken, ein Waschbecken und eine Toilette. Direkt neben dem Porzellan hängt ein grünes Handtuch, auf dem in weißer Schrift Lias' Namen eingestickt wurde. Mit dem geforderten Utensil bewaffnet, renne ich zurück und knie mich neben das röchelnde Kind, dem schon wieder ein paar Tränen über das Gesicht laufen.

Ich beginne sein Gesicht etwas zu säubern, worauf sich unsere Blicke treffen. Mir scheint es, als wäre es ihm peinlich, dass er sich übergeben musste. "Denk nicht so viel darüber nach. Das ist nicht schlimm." Ich versuche ihn etwas zu beruhigen, denn ich will nicht, dass er sich wegen etwas schämt, wofür er wirklich nichts kann. Im nächsten Augenblick dreht er schnell seinen Kopf weg und hustet so stark, dass er wieder einen hochroten Kopf bekommt. Die gequälten Laute, die ihm zwischendurch entweichen, machen mir schwer zu schaffen, da ich nur untätig dasitzen und ihm nicht helfen kann.
"Ich mach schnell den Inhalator fertig, so bekommt er nichts abgehustet!" Jonathan hastet zu dem großen Gerät, während ich mich voll und ganz auf Lias konzentriere. "Komm, ich zieh dir kurz dein T-Shirt aus, okay?" Ich warte auf die Bestätigung, die prompt mit einem Nicken folgt und befreie meinen Neffen von dem Stück Stoff. Anschließend säubere ich ihm so gut wie möglich seine Hände. Lias versucht sich immer wieder das Husten zu verkneifen, was seine Lage nicht unbedingt besser macht.

Als Jonathan mit dem Inhalator an das Bett herantritt, fällt sein Blick auf die beschmutzte Shorts von Lias. Hätte mir selbst auch in den Sinn kommen können, das man ihm diese ausziehen kann. "Steh mal auf, dann befreien wir dich auch von der Hose!" Lias kommt ohne zu zögern meiner Aufforderung nach und ich bin ihm beim Ausziehen behilflich. Unter einem erneuten Hustenanfall setzt er sich wieder auf seine Matratze und nimmt von seinem Betreuer die Atemmaske entgegen, die er sich sofort an den Mund hält und mit zittriger Atmung das Medikament inhaliert. Ich setze mich neben meinen Neffen auf die Matratze und streiche ihm immer wieder sanft mit der Hand über seinen Rücken.

Nach und nach wird der Husten und ebenfalls der Junge schwächer. Sein Körper fällt kraftlos gegen meinen und erschöpft legt er seinen Kopf an meiner Schulter ab. Jonathan beobachtet das Ganze mit einem Lächeln im Gesicht und verschwindet kurz darauf mit dem Handtuch im Badezimmer. Zurück kommt er mit einem kleinen Schüsselchen, das er mit Wasser gefüllt hat, einem Waschlappen und einem frischen Handtuch. Der Betreuer säubert zuerst das Gesicht des Jungen, anschließend die Arme, den Oberkörper und zuletzt die Beine. Nachdem er fertig ist, deutet er mir mit seiner Hand, dass ich weiter nach oben in Richtung Kopfteil rutschen soll und platziert darauf Lias' Beine auf dem Bett, um ihn zudecken zu können. Die gut sichtbare Gänsehaut wird mit einer kuscheligen dünnen Decke bedeckt, die ich mit meiner freien Hand bis zu Lias' Kinn nach oben ziehe. Hin und wieder hustet der Kleine noch, doch man hört jetzt sehr gut, dass der Schleim nicht mehr so hartnäckig in den Atemwegen hängt.

Kurz bevor der Kämpfer sich seiner Müdigkeit hingibt, legt er vorsichtig seine Hand auf meine und genau das ist der Moment, in dem mir bewusst wird, dass dieser Junge mich mehr braucht, als er zugibt.

Als er komplett weggetreten ist und seine Hand mit der Maske auf seinen Schoß fällt, setzt sich der Betreuer neben uns, greift nach dem Hilfsmittel und hält sie wieder über den Mund des Jungen. "Kommen solche Situationen oft vor? Das ist wirklich krass für ihn!" Ehrlich gesagt, hätte ich nicht damit gerechnet, dass er solchen Attacken ausgesetzt ist. "Leider ja. Normalerweise sollte das neue Medikament besser helfen und die Sekrete schneller lösen, aber man sieht ja, dass das bei Lias nicht wirklich anschlägt!" Jonathan seufzt vor sich hin, da das ganze auch nicht spurlos an ihm vorbei geht, trotz der Routine. "Ich kenne da ein paar Ärzte, vielleicht könnte ich bei Ihnen eine zweite Meinung einholen. Terminlich scheint mir der jetzige Arzt nicht sehr flexibel zu sein. Aber gerade in solchen Fällen sollte doch sofort reagiert werden." Ich weiß zwar nicht, ob meine befreundeten Ärzte sich in diesem Bereich gut auskennen, aber ich kann mir sicher sein, dass sie mir zumindest einen qualifizierten Kollegen empfehlen, den man vertrauen kann. "Da hast du vollkommen recht. Leider ist der Arzt im Urlaub und hat die Akte unter Verschluss genommen, so dass niemand anderes darauf Zugriff hat. Laut Aussage der Sprechstundenhilfe lässt er sich nicht gerne in seine Behandlungen pfuschen. Wenn du aber jemanden kennst, kannst du gerne eine zweite Meinung einholen. Ich kann dir die Medikamentenliste ausdrucken, dann hast du wenigstens diese Info." "Super. Danke. Dann werde ich mich mal schlau machen. Das kann man keinesfalls so lassen!" Mein Blick wandert zu dem blassen Gesicht neben mir, aus dessen Stirn ich ein paar verschwitzte Strähnen streiche.

Mir wird nochmals bewusst, dass Lias eine Person braucht, die nur für ihn da ist und ihm durch diese schweren Zeiten hilft. Der heutige Tag befestigt mich immer mehr in meinem Vorhaben, endlich meine Rolle als Onkel anzunehmen und alle Zweifel und Ängste zur Seite zu schieben. Irgendwie werden wir das schon schaffen, Lias und ich.

Gedankenverloren steige ich in mein Auto ein und lasse mich erschöpft gegen die Rückenlehne fallen. Am liebsten wäre ich bei Lias geblieben, bis er wieder aufwacht, damit er nicht alleine ist und jemanden an seiner Seite hat. Jonathan musste mich jedoch wegschicken, da Lias laut seiner Aussage jetzt eine Zeit lang schläft und die Besuchszeiten sich dem Ende zugeneigt haben. Mein Herz wird schwer wie Blei. Mich zermürben die Gedanken, dass ich mein Leben lang nichts von meinem Neffen gewusst hätte, wenn er sich nicht auf die Suche nach mir gemacht hätte. Selbst wenn Lias gesund wäre, hätte ich meinem Neffen niemals ein Leben im Heim gewünscht. Wie meine Schwester es übers Herz bringen konnte, ihren eigenen Sohn ins Heim abzuschieben, ist mir ein großes Rätsel. Vielleicht ist es in Anbetracht ihrer Umstände für das Kind besser gewesen, dass er nicht bei ihr aufwachsen musste, aber sie hätte über ihren Schatten springen und mich informieren können.

Seufzend starte ich den Motor und verlasse den Parkplatz des Heims. Da ich jetzt nicht alleine in meinen Gedanken versumpfen will, mache ich mich auf den Weg zur Wache und statte der Rettungstruppe einen Besuch ab. Vielleicht habe ich Glück und treffe Linus oder Phil an, mit denen ich die letzten Jahre eine gute Freundschaft aufgebaut habe. So könnte ich neben ein bisschen Gesellschaft hoffentlich auch an ein paar Informationen über geeignete Ärzte gelangen, die meinem Neffen helfen können.

Lias will glücklich seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt