Die Wartezeit, während Lias im Schockraum untersucht wird, ist ätzend. Ich wäre am liebsten an seiner Seite geblieben, aber ich musste mich leider in den Warteraum begeben. Linus ist so lieb und bleibt während der Untersuchung an der Seite meines Neffen, falls er aufwachen sollte und Panik schiebt, wenn er lauter fremde Gesichter um sich herum hat.
Vor fünf Minuten habe ich Jonathan informiert, dass wir in der Klinik am Südring sind und er vorsichtshalber Klamotten mitbringen soll, da Linus schon angedeutet hat, dass Lias sicherlich hier bleiben muss.
So habe ich mir unseren ersten Ausflug sicherlich nicht vorgestellt.
"Paul?" Eine mir bekannte Stimme ruft meinen Namen und lenkt mich von meinem Gedankensumpf ab. Als ich meinen Blick erhebe, sehe ich Alex auf mich zukommen. "Hi. Was treibst du denn hier?", frage ich irritiert, da der Herr normalerweise als Notarzt unterwegs ist und jetzt aber in einem Arztkittel vor mir steht. "Arbeiten. Ich habe mich jetzt hier in die Klinik versetzen lassen. Mein Fuß macht noch ordentlich Probleme und ich weiß nicht, ob er meinen Befehlen je wieder gehorchen wird. Dem andauernde Gespringe als Notarzt kann ich so leider nicht mehr nachkommen." Alex und ich sind uns schon auf vielen Einsätzen begegnet. Zwischen uns hat sich, wie mit fast allen Notärzten, eine Art Freundschaft entwickelt. Leider haben wir uns lange nicht gesehen, da er Unfallbedingt über ein Jahr lang aussetzen musste.
Bei einem Einsatz, einem schweren Verkehrsunfall, wurde er selbst zum Patienten. Ein Autofahrer erlitt einen Sekundenschlaf und donnerte direkt in den Unfallort. Alex war gerade damit beschäftigt einen Patienten von einer Motorhaube zu pflücken, als das Auto ungebremst in ihn rein bretterte. Fazit des Ganzen war eine Beckenfraktur und ein zertrümmertes Bein, neben unzählig anderen Verletzungen."Scheiße", murmele ich vor mich hin, doch Alex winkt mir ab: "Halb so wild. Es wäre schlimmer, wenn ich meinen Beruf an sich an den Nagel hängen müsste. Was treibt dich denn hierher?" "Mein Neffe ist gerade in Behandlung und ich muss warten!" "Dein Neffe? Seit wann..." Der Arzt wird durch das klingeln seines Telefons, das er in der Tasche seines Arztkittels verstaut hat, unterbrochen. "Sorry", entschuldigt er sich und nimmt das Gespräch an. Der Wortwechsel dauert nicht lange, doch ich weiß, dass er dringend gebraucht wird, da er sich sogleich wieder auf die Beine stellt. "Paul. Ich muss leider los. Wenn du mal Zeit hast, könnten wir uns doch auf ein Bierchen treffen. Mir scheint, dass wir uns eine Menge zu erzählen haben!" "Kein Ding. Dienst ist Dienst. Ich melde mich die Tage. Machs gut!" "Danke. Ich drücke dir die Daumen zwecks deinem Neffen. Bis bald!" Jetzt, da ich Herrn Hetkamp genau beobachten kann, fällt mir auf, dass er doch noch stark humpelt. Wahrscheinlich sollte er sich nicht mal dem Gehetze des Klinikums aussetzen, damit er noch vollends genesen kann, aber so wie ich den sturen Bock kenne, hat er seinen Chef so lange bearbeitet, bis der ihm einfach zugestimmt hat. Durchsetzungsvermögen hat er, der Gute.
"Paul? Weißt du schon etwas?" Neben mir treffen Stephan und Tom ein. Beide verzeichnen hängende Mundwinkel und die Sorge steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Wahnsinn, wie schnell der Knirps sich in unsere Herzen geschlichen hat. "Hey. Nö. Muss noch warten. Ihr hättet nicht sofort kommen müssen. Es hätte auch gereicht, wenn ihr später kommt!" Die beiden ziehen jeweils eine Augenbraue nach oben und setzen sich im gleichen Zug neben mich. Es braucht keine Worte, um zu wissen, dass sie mir beistehen und mich jetzt nicht alleine lassen werden. "War er nochmal wach?", will Stephan wissen, was ich mit einem Kopfschütteln beantworte. Manchmal ist das Leben brutal. In dem einen Moment hatte Lias Spaß und sich über seinen Sieg an der Schießbude gefreut und im nächsten Moment nimmt das Schicksal seinen Lauf und er liegt im Krankenhaus. Ich frage mich, ob das noch oft der Fall sein wird und ob ich mich jedes Mal so scheiße hilflos fühlen werde.
Der Gedanke daran, wie sehr sich der Kleine an mich geklammert und ausdrücklich gesagt hat, dass er mich an seiner Seite haben möchte, löst so viele verschiedene Gefühle in mir aus. Es nimmt mir die Sorge, dass Lias sich bei mir nicht wohl fühlen könnte. Aber es zeigt auch, wie einsam der kleine Kerl sein ganzes Leben lang schon ist. Ohne richtige Familie. Ohne festen Rückhalt. Ohne einen Menschen, der nur für ihn da ist. Wenn ich mir vorstelle, dass er nie nach mir gesucht hätte und ich somit nie die Chance bekommen hätte, ihm wenigstens jetzt beizustehen, wird mir kotzübel.
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Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...