Lias' Sicht
Mein grummelnder Magen reißt mich aus meinem Schlaf. Ich schlage die Augen auf und schaue mich schlaftrunken in meinem Zimmer um. Außer mir ist niemand mehr da. Meine Muskeln lassen mich bei der kleinsten Bewegung schon merken, dass Muskelkater Besitz von ihnen ergriffen hat. Der Geschmack in meinem Mund deutet mir, dass ich entweder aus dem Bioabfalleimer gegessen oder aber mich übergeben haben muss.
Um diese ekelhafte Zusammensetzung in meinem Mund etwas zu neutralisieren, schwinge ich meine Beine aus dem Bett und laufe auf mein kleines Badezimmer zu. Dort schnappe ich mir meine Zahnbürste, die ich mit reichlich Minzpaste beschmiere und tausche somit die Geschmacksrichtungen in meinem Mundraum aus. Während dem Schrubben mache ich mir Gedanken über den leider kurzen Besuch von meinem Onkel. Das Gefühl, dass er an meiner Seite war, durchflutet meinen Körper mit Wärme, aber auch etwas Angst kommt hinzu, da ich nicht weiß, ob ich ihn mit meinem Auftritt erschreckt habe. Natürlich ist er nicht abgehauen oder hat sich vorzeitig verabschiedet, aber es könnte gut möglich sein, dass er sich jetzt zuhause Gedanken darüber macht und feststellt, dass ihm solche Attacken viel zu anstrengend sind und er mit solchen Vorfällen gar nicht konfrontiert werden möchte. Kraftlos lasse ich meine Hand mit der Zahnbürste in das Waschbecken fallen. Genau darüber wollte ich mir eigentlich keine Gedanken machen und doch tue ich es.
"Hey, du bist ja wach!" Willi, einer der ältesten Betreuer, steht im Türrahmen gelehnt und beobachtet mich aufmerksam. Ich nicke vor mich hin, spucke den Schaum aus und spüle meinen Mund mit Wasser durch. "Alles in Ordnung? Geht es dir besser?", will der Ältere wissen und kommt ein paar Schritte auf mich zu. "Mhm", murmelt ich vor mich hin, da ich keine große Lust habe mich zu unterhalten, was Willi nicht sonderlich beeindruckt: "Wie wäre es, wenn du jetzt schnell duschen gehst und im Anschluss etwas isst? Ich habe dir extra was von dem Abendessen auf die Seite gestellt, da ich davon ausgegangen bin, dass du bestimmt großen Hunger hast, wenn du wieder wach bist!" Anstatt meinem Mund, antwortet mein Magen mit einem lauten Grummeln, was den Betreuer sofort schmunzeln lässt: "Hab ich also richtig gedacht!"
Willi ist wirklich ein herzensguter Mensch. Zwar ist er streng, eben ganz von der alten Schule, jedoch auch sehr herzlich, wenn man es sich nicht mit ihm verkackt. Der Ältere ist nur einen Kopf größer als ich, von stämmiger Natur und sein Gesicht von einigen Falten gezeichnet. Er ist um die sechzig Jahre alt und viele sehen ihn als eine Art Opa an. Er ist der Älteste der ganzen Betreuer und liegt auf Platz drei der Beliebtheitsskala bei mir. Auf Platz eins liegt ganz klar Jonathan, dicht gefolgt von Carlos. Hinter Willi gibt es keine großen Platznummerierungen mehr, denn die anderen Betreuer und Betreuerinnen sind einfach nur da und erledigen ihren Job.
"Lias, was ist los, mh?" Willi wuschelt mir mit seiner Hand durch meine Haare und lässt seinen Blick zu meinem Gipsarm wandern: "Carlos hat, glaube ich, ein paar frische Verbände mitbekommen. Da werden wir nach dem Duschen erst einmal einen frischen anlegen... Mir ist zu Ohren gekommen, dass du heute Besuch hattest. Dein Onkel war hier, stimmt's?" Ich nicke wortlos vor mich hin und schaue auf den Boden, da meine nackten Füße langsam aber sicher die Kälte des Fliesenbodens aufnehmen.
Der grau-melierte seufzt leise auf und schnappt sich aus meiner Kommode ein frisches Handtuch, sowie mein Duschgel und Shampoo. "Holst du dir noch frische Klamotten? Ich gehe schon mal vor und organisiere noch eine Tüte, die wir um deinen Gips anbringen können. Ich bin im Basteln ja wirklich kein Held, aber irgendetwas werden wir da schon hinbekommen." Da ich keine Anstalten mache mich zu bewegen, schiebt mich Willi mit einer Hand an meinem Rücken aus dem Bad und verlässt darauf mein Zimmer.
Ich gebe mir einen Ruck und organisiere mir eine frische Boxershorts, ein T-Shirt und eine Schlafhose. Der Digitalwecker auf meinem Nachttisch zeigt an, dass wir es schon nach zehn Uhr abends haben. Ich bin froh, dass wir noch ein paar Tage Ferien haben, denn bis ich wieder müde werde und meinen benötigten Schlaf antreten kann, wird es noch eine Zeit lang dauern.
Bei den Duschräumen angekommen, steht Willi schon erwartungsvoll mit Klebeband und Tüte in der Hand da und grinst mir schief entgegen: "Bereit für Bastelstunde mit Willi?" Schon bei dem Gedanken, dass ich nachher mehr Klebeband als Haut an meinen Körper haben werde, muss ich leicht Grinsen. "AHA! Lachst du mich etwa jetzt schon aus? Hast du denn gar kein Vertrauen in einen alten Mann mit mehreren Jahren Lebenserfahrung? Ich wette mit dir, dass kein Tropfen Wasser an dein Gips gelangen wird!" "Ich würde niemals an dir zweifeln", kommt es mit krächzender Stimme von mir, was den Betreuer ein leises Lachen entlockt: "Dann komm her, du kleine Krähe, sonst stehen wir morgen früh noch hier!"
Nachdem ich meine Klamotten auf einem Regal abgelegt habe, begebe ich mich in die Hände des Tütenbefestigers. Dieser stülpt den Gipsschutz über meinen Arm und faltet das Ende so gut wie möglich zusammen: "Halt hier mal fest! Jetzt machen wir das Klebeband drüber und dann geht's ab unters Wasser!" Nach zehn Lagen Klebeband, damit auch wirklich kein Tropfen den Weg zu meinem Gips findet, scheint Willi sehr zufrieden zu sein: "Müsste halten. Nicht schön, aber selten, hahaha. Versuch deinen Arm aber trotzdem nicht direkt unter das Wasser zu halten, okay? Soll ich in der Nähe bleiben, falls du Hilfe brauchst?" "Nein, das geht schon, denke ich!" "Okay, dann mach ich dein Essen fertig!" Nach einem erneuten Haarwuscheln verkrümelt sich der Ältere und überlässt mich meinem Schicksal.Mit nur einem Arm zu duschen, stellt sich schon als etwas schwierig heraus, jedoch bin ich froh, kein Mädchen mit langen Haaren zu sein, denn die hätte jetzt sicherlich mehr Probleme ihre Haare zu waschen. Auch das Abtrocknen schaffe ich, wenn auch mit wesentlich mehr Zeitaufwand alleine und gerade als ich meine Boxershorts an Ort und Stelle gezogen habe, steht der Betreuer wieder in der Türe: "Jetzt bist du keine Stinkmorchel mehr. Super. Lass uns schnell die Tüte abnehmen, bevor du den Rest anziehst, sonst wird alles nass!" Willi tritt ein paar Schritte auf mich zu und versucht, den Anfang des Klebebandes zu finden. Dieser scheint allerdings mit dem Rest verschmolzen zu sein: "Das kann doch nicht sein... Siehst du, ich habe meine Aufgabe viel zu gut ausgeführt. Was machen wir denn jetzt?" "Wenn wir die Tüte aufreißen kommen wir von innen an das Klebeband. Vielleicht können wir es dort besser lösen!", schlage ich vor und zupfe sofort an dem Plastik. "Warte, nicht so schnell, sonst tust du dir noch weh!" Der Betreuer schiebt meine Hand zur Seite und schafft es tatsächlich, nach einer halben Ewigkeit meinen Arm zu befreien.
"So! Jetzt ziehen wir dir die restlichen Klamotten an und dann geht's ab ins Zimmer. Dein Essen wartet auf dich!" Als Willi nach dem Oberteil greift und Anstalten macht, mir das überziehen zu wollen, reiße ich es ihm aus der Hand: "Ich bin kein Baby mehr und kann das alleine!" "Nicht gleich bockig werden! Das war nur lieb gemeint!" In Windeseile und mit bösen Blick werfe ich mir die Klamotten über und marschiere anschließend auf mein Zimmer. Dort erwartet mich an meinem Schreibtisch tatsächlich ein Teller voller Kartoffeln und irgendeiner undefinierbarer Matsche.
Ne, danke...
Da mein Magen sich während dem Duschen wieder beruhigt und sich an die Luftfüllung gewöhnt hat, lege ich mich einfach in mein Bett und denke über Pauls Besuch nach. Er hat ehrlich Interesse an mir gezeigt, was sofort bei den Gedanken daran ein warmes Gefühl in mir aufsteigen lässt. Wenn ich aber an seinen Gesichtsausdruck denke, als ich mich vollgekotzt habe, kommen wieder einige Zweifel auf. Ich bürde anderen Menschen mit meiner Krankheit zu viel auf. Ich bringe sie zum Verzweifeln und verursache ein Gefühl der Hilflosigkeit. Mein darauf folgendes, leises Aufseufzen wird überraschenderweise kommentiert: "Über was zerbrichst du dir schon wieder den Kopf, mh?" Hinter mir senkt sich die Matratze, bevor sich eine große Hand auf meinem Rücken ablegt und ein paar kreisende Bewegungen vollführt. Auf eine endlos lange Diskussion habe ich heute keine Lust mehr und darum gebe ich keine Antwort, schließe die Augen und genieße einfach die kurze Streicheleinheit. "Warum isst du schon wieder nichts? Das kann so nicht weitergehen. Du brauchst das Essen, um Kraft zu produzieren. Von nichts kommt nichts!"
Auf dem Flur ist ein Schrei von einem der jüngeren Kinder zu hören. Der Betreuer seufzt leise auf und erhebt sich wieder, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Nachdem er mein Zimmer verlassen hat, ziehe ich meine Decke über meinen Kopf und befreie mein kleines verratztes Kuscheltier aus seinem Versteck unter der Matratze. Dort habe ich es versteckt, damit es niemand findet und mich damit aufziehen kann. In meinem Alter besitzt man sowas schließlich nicht mehr. Aber ehrlich gesagt tut es gut, wenn ich ab und zu etwas in meinen Armen halten kann. Vor allem dann, wenn man sich eh einsam fühlt.
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Lias will glücklich sein
FanficAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...