Lias' Sicht
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber hier auf dem Flur ist es ebenfalls langweilig. Natürlich könnte ich mich auch mit meinen neuen Sachen beschäftigen, aber mein Körper braucht endlich mal wieder etwas Bewegung. Die ganze Zeit nur im Bett zu liegen oder auf dem Klo zu sitzen ist nicht unbedingt nach meinem Geschmack und darum vertrete ich mir jetzt auch ein bisschen die Füße. Mit Paul zu reden oder ihn einfach nur bei mir zu haben wäre mir jetzt viel lieber, aber daran kann weder ich noch er etwas ändern.
Aus der Schwesterkanzel dringt wirres Geschnatter in den Flur, was mich hellhörig werden lässt, da die Krankenschwestern um diese Uhrzeit normalerweise ziemlich leise sind. Da ich neugierig bin, warum die Frauen so aufgedreht sind, schleiche ich mich auf Zehenspitzen bis an die angelehnte Türe und spitze meine Ohren. "Das kann nicht sein! Dr. Hetkamp hat gar kein Kind!", brummelt eine sehr hohe Stimme durch den Raum. "Sandy! Hör mir doch mal zu. Er hat den Jungen adoptiert. Er und seine Frau haben es aufgegeben, weitere Versuche zu unternehmen, eigene Kinder zu bekommen und sich dafür entschieden, einem Kind zu helfen!" "Woher weißt du das denn schon wieder?" "Na ja. Ich habe da vielleicht zufällig ein Gespräch zwischen Herrn Dreier und ihm mitbekommen. Was meinst du, warum er sonst die letzten drei Tage fast ununterbrochen in der Klinik zu finden ist? Er will den Jungen nicht alleine lassen und schiebt einen Dienst nach dem anderen, damit er immer wieder nach ihm sehen kann. Anton ist schon elf und weil es ihm wieder entsprechend gut geht, gibt es eigentlich keinen Grund, dass der Papa über Nacht hier bleibt. Da Alex jetzt ja Stationsarzt ist, kann er das gut miteinander kombinieren."
Was?
Ich traue meinen Ohren kaum, als ich den Namen des Jungen höre. Mein Herz nimmt auf einen Schlag die doppelte Geschwindigkeit auf und verursacht somit wildes Herzklopfen, das fast schon schmerzhaft ist.
Kann es sein, dass es wirklich mein Anton ist? Das wäre eigentlich ein viel zu großer Zufall, oder?
Plötzlich wird mir klar, woher ich diesen Alex kenne. Das ist der Mann, der seinen Arm um Antons Schulter gelegt hatte, als ich mich an der Türe des Heims nicht zusammenreißen konnte und geheult habe.
Mann, Lias... Warum ist dir das denn nicht schon früher bewusst gewesen?
Für mich ist jetzt eines ganz klar: Ich muss zu Anton und schauen, wie es ihm geht. Es ist mir egal, dass es später Abend ist. Bis morgen früh halte ich das nämlich nicht aus. Wieder schleiche ich auf Zehenspitzen durch den Gang, laufe an meiner Türe vorbei und stoppe vor dem Zimmer, aus dem auch der Arzt heute morgen herausgelaufen kam. Meine Hand legt sich auf die Türklinke, während ich tief die Luft in meine Lungen einsauge. Die Nervosität besetzt meinen kompletten Verstand und lässt mir tausend Fragen durch den Kopf schießen.
Ob er sich verletzt hat? Hat er sich deswegen nicht bei mir gemeldet? Will er mich vielleicht gar nicht sehen und wird sauer werden, wenn ich einfach so auftauche?
Ich halte einen Moment inne und bin mir sehr unsicher, ob ich da reingehen soll. Falls da doch ein anderer Anton liegt, werde ich am Boden zerstört sein, aber andererseits würde ich es auch nicht aushalten, im Ungewissen zu bleiben.
Die Entscheidung wird mir abgenommen, da die Schwestern ihren Gesprächskreis aufgelöst haben und aus der Schwesterkanzel herausgelaufen kommen. Schnell schlüpfe ich durch die Türe und versuche so leise wie möglich zu sein, damit Anton keinen Schreck bekommt. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, laufe ich auf die Betten zu, die etwas ungewöhnlich angeordnet sind. Zumindest steht eines davon seitlich an der Wand, sodass der Darinliegende seinen Rücken gegen die Wand drücken kann. Damit bin ich mir zumindest zu hundert Prozent sicher, dass das wirklich mein Anton ist.Kurz bevor ich das Bett erreiche, flüstert mir eine leise, ängstliche Stimme entgegen: "Hallo? Ist da wer?" "Ja, ich bin’s!" "Lias?" "Ja!"
Noch bevor wir unsere Freude total ausleben können, sind vor der Türe Stimmen zu hören. Ich möchte nicht entdeckt werden, da wir sonst sicherlich wieder getrennt werden. "Ich muss mich verstecken!", flüstere ich meinem Kumpel zu und überlege, welche Optionen möglich sind. "Du brauchst keine Angst zu haben. Alex ist wirklich lieb. Er wird dich nicht schimpfen!" "Aber sicherlich dafür sorgen, dass ich in meinem Zimmer lande. Ich will jetzt aber bei dir bleiben!", meckert ich trotzig vor mich hin. Denn es ist schon viel zu viel Zeit verstrichen, seitdem wir uns das letzte mal gesehen haben. "Stimmt. Dann versteck dich im Kleiderschrank. Schnell". Mit großen Schritten laufe ich auf den Kleideraufbewahrungsbehälter zu und zwänge mich in die Seite, in der Klamotten an einer Stange aufgehängt werden können. Gerade noch rechtzeitig schließe ich die Türe und versuche mucksmäuschenstill zu sein. Dass es genau in diesem Moment in meinem Hals zu kratzen anfängt, war ja sowas von klar. Durch leichte Nasenatmung versuche ich, ein verräterisches Husten zu vermeiden und meinem Körper trotzdem genug Sauerstoff zuzuführen.
"Anton? Ist alles in Ordnung bei dir? Ich habe dich reden gehört!", ertönt die Stimme von Alex, die so leise ist, dass ich genau hinhören muss, um ihn zu verstehen. "Ich habe schlecht geträumt und bin gerade aufgewacht. Vielleicht habe ich unbewusst irgendetwas gesagt." "Geht's denn wieder?", will Alex wissen und hört sich sehr besorgt an. "Ja. Alles gut!" "Hast du Schmerzen?" Mir wird ganz warm ums Herz, da Anton anscheinend wirklich Glück mit seinem neuen Papa hat. Wenn ich daran denke, dass die meisten Betreuer einfach nur schnell in den Raum geguckt hätten und dann sofort wieder verschwunden wären, ist das hier das Non plus ultra. "Nein. Es ist wirklich alles gut. Du musst dir keine Sorgen machen." "War es ein schlimmer Traum? Hast du wieder von Lias geträumt? Ich verspreche dir, dass du ihn besuchen darfst, sobald du wieder fit bist, okay?"

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Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...