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Immer noch Pauls Sicht

Voller Energie erwecke ich den Motor meiner Karre und starte die Fahrt zur Klinik. Obwohl ich nicht allzu lange geschlafen habe, bin ich relativ fit. Die Freude, das Lias' Zimmer fertig ist und nur noch das "Ok" von Frau Kunkel fehlt, damit der Einzug meines Neffen vollzogen werden kann, flutet mich mit so viel guter Laune und Energie, dass ich massenweise Bäume ausreißen könnte. Auch, dass die Zustände im Heim seit vorgestern genau unter die Lupe genommen werden und ordentlich an Personal ausgemistet wird, stimmt mich sehr zufrieden. Obwohl die Kinder natürlich immer noch im Heim leben müssen, haben sie wenigstens eine sichere und gewaltfreie Umgebung, in der sie keine Ängste, aufgrund irgendwelchen Betreuern, mehr haben müssen.

Klaus hat mich gestern Abend, bevor ich in mein Koma gefallen bin, angerufen und erzählt, dass Ronny Fuchs, Frau Türk und Lias' ehemaliger Arzt in Untersuchungshaft sitzen und es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie verurteilt werden. Richter Janthost möchte gerne in allen Ecken und Ritzen gegraben haben, damit auch wirklich alle Schandtaten aufgedeckt werden und er den Übeltätern so viel Strafe wie nur möglich verhängen kann. Dass die drei eingebuchtet werden, steht also außer Frage, es dreht sich nur noch darum, wie lange der neue Wohnsitz von den dreien beansprucht werden kann.

Unterwegs bremse ich noch schnell bei einem Bäcker ein, um dem Kurzen etwas Leckeres mitzubringen. Natürlich gönne ich mir zur Feier des Tages ebenfalls ein süßes Stückchen. Da ich leider überhaupt nicht weiß, was Lias mag, entscheide ich mich für eine kleine Auswahl. Neben einem Schokohörnchen, einem Puddingstreusel, einer Nussschnecke und einem mit Marmelade gefüllten Krapfen, landet auch noch eine Butterbrezel in der Tüte. Vielleicht ist die Menge übertrieben, aber wir müssen ja nicht alles auf einmal vernaschen.

In der KaS angekommen, marschiere ich auf direktem Wege zu Lias und betrete nach einem lauten Anklopfen das Zimmer. Ich muss feststellen, dass es dem Kurzen schon viel besser gehen muss, denn der hängt Kopfüber vom Bett und stützt sich mit den Händen vom Boden ab. Sein Blick ist direkt auf mich gerichtet. "Was wird das, wenns fertig ist?", frage ich leise lachend und lege die Bäckertüte und einen Stoffbeutel auf dem Tisch, der an der Wand steht, ab. "Ich wollte eigentlich mal die Perspektive wechseln, weil mir extrem langweilig ist.... Jetzt schaffe ich es aber nicht mehr nach oben!" Kaum ausgesprochen, fängt Lias an zu Husten und bekommt einen hochroten Kopf. "Sag das doch gleich!" Schnellen Schrittes laufe ich zum Bett und bin meinem Neffen behilflich, sich wieder normal auf das Bett zu setzen. Hustend würgt er ein "Danke" hervor und schenkt mir nach Beendigung der Sekretlockerung ein breites Grinsen.

"Hast du schon gefrühstückt?", will ich wissen und setze mich neben den Kurzen auf die Matratze. "Nein!" "Warum denn nicht? Hattest du gar keinen Hunger?", frage ich verwundert, denn normalerweise müsste er bei seinem Nachholbedarf der letzten Tage nonstop am Futter einwerfen sein. Lias zuckt mit den Schultern und zupft an der Bettdecke herum. "Was bedrückt dich?"
Mit ertappten Blick schießt sein Kopf in die Höhe: "Gar nichts!" Schon alleine, dass die Antwort so schnell kam, macht mich stutzig. Wenn man dann noch den Gesichtsausdruck berücksichtigt, weiß man, dass diese Aussage nicht der Wahrheit entspricht. "Du kannst mit mir über alles reden, Lias. Wenn du alles in dich hineinfrisst, wird das bedrückende Gefühl nicht besser werden.”
Der Junge seufzt kurz auf und erzählt mir dann doch, was ihn bedrückt: "Ich habe keine Lust mehr hier zu sein, aber ich habe auch irgendwie Angst davor, zurück ins Heim zu gehen. Außerdem ist mir langweilig, langweilig und langweilig... Habe ich schon erwähnt, dass mir langweilig ist?" Das traurige Gesicht verwandelt sich in ein leicht amüsiertes. "Ich kann dich gut verstehen, aber zwei, drei Tage wirst du sicherlich noch bleiben müssen. Sollen wir beide irgendwas machen?" "Weißt du denn noch nicht, ob ich zu dir kann?" Dieses gewisse flehen in seiner Stimme ist neu. Es freut mich, dass er nach den vielen Gedanken, die er sich sicherlich über den Einzug bei mir gemacht hat, am liebsten gleich zu mir kommen würde. Wie gerne würde ich ihm jetzt sagen, dass morgen zumindest die vorläufige Entscheidung fällt, doch aus Sorge, dass irgendetwas schief geht, behalte ich es lieber für mich. Ich könnte es nicht ertragen wenn er gespannt auf mein Erscheinen wartet, mich dann löchert und ich ihm letztendlich vielleicht sagen muss, dass das Jugendamt dem Einzug in meine Bude nicht zugestimmt hat. Das würde ich erst ein paar Tage verdauen und mir einige Worte zurechtlegen müssen.

Lias will glücklich seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt