Pauls Sicht
"Hahaha. Paul, du musst noch eine Menge lernen!", gibt Linus von sich und stellt sich wieder aufrecht hin. Ich lasse meine Hand durch mein Gesicht gleiten und frage mich allen ernstes, wer hier wen im Griff hat. "Kopf hoch. Das wird schon werden... Sag mal, hat Lias heute schon etwas gegessen?" "Nein. Er wollte bisher nichts. Wieso?" Linus dreht sich in die Richtung in die Lias gelaufen ist und stemmt seine Hände in die Hüften. "Aufgrund der Tatsache, dass er Mukoviszidose hat und eine der Begleiterkrankungen Darmträgheit ist und da mal gut und gerne eine Verstopfung entstehen kann, glaube ich zu wissen, weshalb Lias sich die Hand auf den Unterbauch gelegt und sich gekrümmt hat. Außerdem gefällt mir das röchelnde Geräusch beim atmen nicht!" "Und jetzt?", frage ich leicht Überfordert, denn ich möchte Lias auf keinen Fall zwingen sich von Linus untersuchen zu lassen. "Ich geselle mich nachher ein bisschen zu euch und vielleicht entscheidet der Kurze sich ja auch noch um. Wenn er nicht will, dann ist das so, aber ich werde es nicht unversucht lassen. Daraus kann im schlimmsten Fall ganz schnell ein Darmverschluss entstehen und das möchten wir ja nicht herausfordern. Auf alle Fälle werde ich mich heute noch mit Dr. März in Verbindung setzen, damit er Lias hoffentlich bald etwas Erleichterung verschaffen kann. Wenn die Sekrete nicht abfließen, kann ganz schnell eine Infektion entstehen." Mir wird ganz schwindelig bei Linus’ Worten und am liebsten würde ich jetzt einfach weglaufen und meinen Kopf in den Sand stecken. Ich sehe die Notwendigkeit, dass der Herr Notarzt einmal einen Blick auf Lias wirft, kann aber nicht über den Kopf meines Neffen hinweg entscheiden, dass er das jetzt über sich ergehen lassen muss. Schließlich möchte ich sein Vertrauen gewinnen und dafür sorgen, dass er sich bei mir sicher fühlt.
Als ich gerade etwas zu Linus sagen möchte, dringt lautes Geschrei an mein Ohr: "NEIN! ICH WILL NICHT MIT DIR MIT! PAUL!!"
Wir drehen allesamt blitzschnell unsere Köpfe in die Richtung des Schrei und sehen einen Mann, der Lias am Gipsarm festhält und ihn gewaltsam hinter sich herzieht. Der Junge versucht sich zu wehren und schlägt mit dem gesunden Arm auf den Mann ein. Dieser hat die Faxen aber gleich dicke und schnappt Lias mit einem festen Griff um den Bauch.Stephan, Tom, Moritz und ich springen gleichzeitig los und eilen Lias zur Hilfe. "Hey! Lassen Sie den Jungen los! Sofort!", schreie ich noch während dem Rennen, damit der Typ realisiert, dass seine Tat bemerkt wurde. "Ich bin sein Betreuer, passt schon!", brüllt der Mann mit einem verachtenden Blick zurück. Lias zappelt wie wild in den Armen des Mannes und bekommt wieder einen Hustenanfall, der seinen Kopf innerhalb von Sekunden knallrot anlaufen lässt. "Sie bleiben jetzt auf der Stelle stehen und lassen den Jungen los! Haben wir uns verstanden?" Der angebliche Betreuer hält an und funkelt mich böse an: "Und wer sind sie, wenn man fragen darf?" Als ich kurz vor seiner Nase abbremse, schreie ich ihm meine Worte schon fast ins Gesicht: "Paul Richter und Lias' Onkel! Also?"
"HÄNDE WEG VON DEM KIND UND ZWAR ZACKIG! WAS FÄLLT IHNEN EIN, DIESEN JUNGEN SO GROB ANZUPACKEN?" Klaus kommt schreiend auf uns zugerannt und ich bin das erste Mal in meinem Leben froh, dass er ein dermaßen lautes Organ hat, denn der Typ lässt endlich Lias auf dem Boden ab. Zwischen Husten und Röcheln, reibt sich Lias immer wieder über eine Stelle am Bauch. Lias' Atmung wird stetig schneller und die ersten Tränen rinnen über seine Wange. "Lias? Alles okay? Bist du verletzt?", frage ich meinen erbärmlich zitternden Neffen und ziehe ihn in eine Umarmung.
Klaus schreit derweil den Mann nieder und zeigt keinerlei Erbarmen. Als mir dann der Name Ronny Fuchs zu Ohren kommt, schrillen bei mir alle Alarmglocken. Meinen Kollegen scheint auch ein Licht aufzugehen, denn die versichern sich durch einen schnellen Blick zu mir, ob das der Name des Betreuers ist, der Lias den Arm gebrochen hat. Ich nicke allen zu, worauf Stephan dann unseren Chef informiert: "Klaus. Das ist tatsächlich ein Betreuer aus dem Heim, allerdings ist dieser auch für den gebrochenen Arm von Lias verantwortlich!" "Sindera, nicht jetzt! Sie sehen doch, dass ich... Was? Was haben Sie da gerade gesagt?" Stephan wiederholt seine Worte und nimmt dann ein paar Schritte Abstand zu unserem Chef, denn dem platzt der Farbe nach zu urteilen gleich der Kopf. "FESTNEHMEN UND ABFÜHREN!", schreit das Oberhaupt unbeherrscht, denn wenn es um Kinder geht, kennt Wiebelchen eh keine Gnade. Auch wenn lauter Polizisten um ihn herumstehen, hat er wohl vergessen, dass wir uns alle nicht im Dienst befinden und somit auch keine Handschellen bei uns tragen. "Ähm... Wir müssen das wohl ohne Handschellen machen. Zur Zeit tragen wir keine Uniform!" Moritz spricht einen dezenten Hinweis aus, worauf Klaus uns alle abscannt und anschließend die Augen verdreht. "Na gut. Sie kommen jetzt mit mir mit!" Klaus packt Herrn Fuchs an der Schulter und drückt ihn Richtung Parkplatz. "Ich habe das Recht..." weiter kommt der Betreuer nicht, denn Cheffe fällt ihm gleich dazwischen: "Sie haben das Recht, ihren Mund zu halten, bis ich sie irgendetwas frage! Verstanden?" Den Rest bekomme ich gar nicht mehr mit, da ich mich Lias zuwende.
Mein Neffe atmet immer unkontrollierter, hat mittlerweile beide Arme um seinen Bauch geschlungen und vergießt bittere Tränen. Ich befehle mir selbst ruhig zu bleiben, damit Lias sich nicht noch weiter in sein Verderben steigert. "Lias, du musst versuchen, ganz ruhig zu atmen!" Ich streiche ihm sanft durch die Haare und setze mich auf meine Schienbeine ab, damit ich die Gesichtszüge meines Neffen genau beobachten kann. Beim nächsten Hustenanfall löst sich einiges an Sekret, das allerdings die Luftzufuhr blockiert und die Panik bei dem Jungen schürt. Linus trifft zur rechten Zeit bei uns ein zieht den Jungen etwas zur Seite. "Du musst den Schleim ausspucken, Lias!" Der Junge schüttelt mit dem Kopf und fängt leicht an zu schwanken. Linus klopft ihm sanft auf den Rücken und sorgt somit dafür, dass Lias sich doch umentscheidet und den unliebsamen Gast aus seinem Körper befördert. "Gut gemacht! Lias, darf ich dich kurz mal abhören?", fragt Linus und hält schon das Stethoskop bereit, bevor überhaupt eine Antwort kommt. "Okay", gibt der Junge flüsternd von sich und zieht sofort sein Oberteil in die Höhe, damit es den Notarzt nicht stört. Dessen Gesichtsausdruck entspannt sich leider absolut nicht nach dem Abhören, erst recht nicht, als Lias Linus' Hand wegschlägt, nachdem er leichten Druck auf den Unterbauch ausgeübt hat. "Lias, wann warst du das letzte mal auf der Toilette?" "Weiß nicht!" "Dann denk bitte nach. Das ist jetzt wichtig!" Als die Tränenproduktion auf einen Schlag zunimmt, wird uns sofort klar, dass die Antwort uns nicht glücklich machen wird. Der Notarzt verzieht sein Gesicht und umfasst sanft den Oberarm des Jungen: "Ich weiß, dass es dir nicht gefällt, aber wir sollten das ganz dringend im Krankenhaus anschauen lassen!" "Ich.. Ich will.. aber nicht!", schluchzt Lias und wirft sich mir völlig unerwartet in die Arme.
Er krallt sich so fest an mich, dass es fast schon schmerzt, aber ich nehme es in Kauf und lege meine Arme um ihn. Das bittere Weinen und die lauten Schluchzer zerreißen mir fast das Herz, aber ich weiß auch, dass Linus Lias nicht ins Krankenhaus bringen würde, wenn es nicht nötig wäre. Es fällt mir schwer die nächsten Worte auszusprechen, aber uns bleibt keine andere Wahl, wenn wir nicht irgendeine Katastrophe heraufbeschwören wollen: "Hör mal, Lias. Ich kann verstehen, dass du nicht ins Krankenhaus möchtest. Wenn wir jetzt allerdings nicht nachschauen lassen, könnte es sein, dass deine Bauchschmerzen noch viel schlimmer werden und wir Gefahr laufen, dass sich dein Darm verschließt. Das ist sehr gefährlich und das möchte ich nicht riskieren!" Ich atme tief durch und werfe einen Blick zu Herrn Hoffmann, der mir nickend signalisiert, dass das genau die richtigen Worte waren. Lias vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge und schüttelt seinen Kopf. "Ich komme mit und lass dich nicht alleine. Versprochen. Oder soll ich lieber Jonathan anrufen, damit er kommt und dich begleitet?" Da ich in gewisser Hinsicht noch ein Fremder bin, könnte ich verstehen, wenn Lias die Anwesenheit seines vertrauten Betreuers bevorzugt und biete ihm daher diese Alternative an. Es dauert ein bisschen, bis die Antwort leise an mein Ohr dringt: "Nein. Du!" Auch wenn die Situation recht bescheiden ist, zaubert es mir ein Lächeln aufs Gesicht, dass Lias mich dabei haben möchte. "Okay. Ich bleibe an deiner Seite und lasse dich nicht im Stich!" Lias' Anspannung löst sich leicht und mein Ohr vernimmt ein leises Gähnen.
Ungeschickt versuche ich mich auf meine Beine zu kämpfen, da mein Klammeräffchen gar nicht daran denkt, mich loszulassen. Tom und Stephan sind so gütig und unterstützen mich, indem sie mir unter die Arme greifen und mich in die Höhe ziehen. Als ich auf beiden Beinen stehe, schlingt Lias seine Füße um mich und drückt sich noch etwas fester an meinen Körper, falls das überhaupt noch möglich ist. Stephan streicht mir kurz über den Rücken: "Wir bringen dir nachher dein Auto vorbei. Falls vorher irgendwas ist, melde dich!" "Okay, danke.... Oh shit, die Tabletten!" Vor lauter Aufregung habe ich vergessen, Lias die Medikamente zu geben. "Ich habe sie vorhin genommen, als ich an deinem Auto war", lässt mich Lias wissen, was mich erleichtert aufatmen lässt. "Gut gemacht!"
Als ich zusammen mit Linus und Franco zu dem RTW laufe, verliert der an mich geklammerte Körper immer mehr an Spannung. Lias muss total fertig sein, denn als ich den RTW betreten habe und ihn auf der Trage ablege, schläft er tief und fest. Der Notarzt nutzt die Gunst der Stunde und tastet den Bauchraum richtig ab. Schon alleine an dem Gesichtsausdruck kann ich sehen, dass er über die gegebene Tatsache nicht glücklich ist. "Du kannst dich schon mal darauf einstellen, dass er in der Klinik bleiben muss. Da wird ein Einlauf nötig sein. Ich kann aber gleich abklären, dass Dr. März in die KaS kommt und dort die Untersuchungen durchführt. Das wäre wesentlich angenehmer für Lias und mit weniger Aufwand verbunden." "Das wäre super... Oh, mann... Da ist unser Ausflug ja mal ordentlich in die Hose gegangen!" "Wie man es sieht. Hätte auch böse enden können, wenn er das noch eine Zeit lang verheimlicht hätte!"
Nachdem Lias festgeschnallt wurde, setze ich mich auf den Notsitz und greife nach der kleinen Hand. Auch wenn Lias schläft, möchte ich ihn solange festhalten, wie es geht. Vielleicht spürt er es ja trotzdem und vielleicht beruhigt es mich selbst auch noch ein Stück.
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Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...