Vor dem Zimmer der Betreuer bleiben wir stehen. Paul gibt mir Bescheid, dass er zum Auto geht, um die Tasche zu verstauen und mir dann noch das Einhorn bringt, das ich Lotta schenken wollte. Wenn ich jetzt schon an die großen Augen von ihr denke, bekomme ich gleich wieder bessere Laune.
Jonathan öffnet die Türe und schiebt mich ins Zimmer. Ich bin überrascht, dass hier so viele Menschen gleichzeitig sind. Bisher waren immer nur drei bis vier Personen pro Schicht anwesend. "Was macht denn meine kleine Krähe hier?", brummt es von Richtung des Sofas. Ich drehe meinen Kopf zu Willi und sehe, dass er gerade irgendeinen Schreibkram erledigt. "Ich möchte mich verabschieden!" Willi legt den Stift zur Seite und breitet seine Arme aus: "Dann komm her, Lias!" Mit einem wackeligen Lächeln laufe ich auf den Betreuer zu und versuche nicht schon wieder zu heulen, doch auch Willi sieht mir nicht gerade so aus, als wenn seine Augen trocken bleiben werden. Als ich mich an den weichen Körper schmiege, fällt es mir wirklich schwer zu glauben, dass ich nicht mehr hierher zurückkommen werde. "Kleiner, ich muss dir ehrlich sagen, dass ich dich sehr vermissen werde. Aber ich bin froh, dass du endlich hier wegkommst. Bleib anständig und höre auf deinen Onkel, ja? Pass auf dich auf und mach was draus, Lias. Du darfst aber jederzeit gerne zu Besuch kommen und uns ein bisschen aufmischen, okay?" "Ich werde euch nicht vergessen, versprochen", schluchze ich vor mich hin, da ich jetzt doch nicht anders kann und meinen Tränen freien Lauf lassen muss. "Wir dich auch niemals. Du bist ein wundervoller Junge, ein starker Kämpfer. Zeig der Welt da draußen, was in dir steckt!" Wieder wird von der Seite des Betreuers die Umarmung aufgelöst, denn ich würde mich womöglich nie dazu aufraffen können mich zu lösen.
Hinter mir taucht Carlos auf, der sich auch etwas schwer tut, ein Lächeln aufzulegen. "Lias, Lias... Das ich einmal so Zwiegespalten bin, wenn ein Kind das Heim verlässt, hätte ich auch nie für möglich gehalten. Aber ich freue mich natürlich wahnsinnig für dich. Du bekommst endlich das was du verdient hast. Ich kann mich nur Willis Aussage anschließen und wünsche dir da draußen ein wunderschönes Leben. Pass auf dich auf. Jetzt komm schon her und lass dich drücken!" Carlos zieht mich mit Schwung an seinen Körper und drückt mich fest an sich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Heim lebendig verlassen werde, denn es fühlt sich so an, als würde mein Herz gleich explodieren. "Danke für alles, Carlos. Du, Willi und Jonathan wart die Besten und habt es hier wirklich erträglich gemacht. Ohne euch hätte ich bestimmt nicht durchgehalten!" Ich spreche aus, was ich wirklich denke und merke, wie Carlos einen Moment lang die Luft anhält. Was würde ich darum geben, wenn ich die drei einfach mitnehmen könnte, damit dieser blöde, fiese Schmerz in mir verschwindet. Natürlich werden die Männer hier gebraucht und ich würde den anderen Kindern keinen Gefallen tun, wenn die drei nicht mehr hier arbeiten würden und genau mit diesen Worten versuche ich mich selbst zu trösten.
"Ich komme euch besuchen, versprochen!" "Das will ich auch hoffen. Lass ruhig öfter was von dir hören. Jetzt gehst du dich noch von Lotta verabschieden und dann geht's ab in dein neues Zuhause." Carlos löst die Umarmung auf und zieht anschließend zwei Mini Mentosstangen aus seiner Hosentasche. "Die sind für dich. Lass dir schmecken. Halt die Ohren steif und pass auf dich auf!" Nach einem angedeuteten Kinnhaken dreht sich der Blonde um und verschwindet aus dem Raum. Als ich die Mentosstangen anschaue muss ich grinsen. Die haben Carlos und ich manchmal heimlich genascht, wenn er oder ich einen scheiß Tag hatten. Wir haben uns immer unter der Bettdecke versteckt und den ganzen Mund mit diesen Dingern vollgestopft.
Lächelnd stecke ich die Süßigkeiten in meine Hosentasche und wische mit meinem Ärmel über mein Gesicht. Jetzt steht mir noch ein schwerer Abschied bevor, der mir etwas Angst macht, da ich weiß, wie sehr Lotta an mir hängt.
Jonathan schnappt meine Hand, da er ganz genau weiß wie mir zumute ist und tritt mit mir in den Flur hinaus. Auf halber Strecke kommt uns Stephan mit dem Einhorn entgegen. "Paul muss leider kurz sein Telefonat zu ende führen und darum bringe ich dir das!" Ich lasse Jonas Hand los und nehme das riesige Vieh in Empfang. "Was ist das denn?", will Jona wissen und beäugt das Einhorn etwas kritisch. "Das habe ich auf dem Sommerfest gewonnen und möchte es gerne Lotta schenken. So ein großes Kuscheltier hat sie nämlich noch nicht!", erkläre ich, worauf Jonathan schwer aufatmet und mich an den Schultern in Richtung Lottas Zimmer schiebt. Schon vor der Türe höre ich die fröhlichen Kinderlieder, die mir sonst immer ziemlich auf die Nerven gegangen sind. Heute bin ich aber froh, dass die Musik läuft, denn vielleicht lässt sie den Abschied nicht ganz so schwer werden.
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Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...