Lias' Sicht
Als ich am nächsten Morgen von Jona geweckt werde, staune ich nicht schlecht, denn normalerweise hätte mich Carlos wecken müssen: "Morgen! Warum bist du noch oder schon wieder da?" "Hab eine Schicht übernommen. Angelika ist krank. Da allerdings nichts los war, konnte ich auch ein paar Stunden schlafen und bin voller Tatendrang." "Cool, aber jetzt verzieh dich, ich bin noch müde!"
In den Ferien stehe ich wirklich nicht gerne so früh auf und das weiß mein herzallerliebster Betreuer eigentlich. "Ach komm, du hast lange genug geschlafen. Außerdem habe ich super Neuigkeiten für dich: Du darfst heute wieder raus!" "WAS?" Plötzlich total wach und voller Tatendrang, schieße ich mit meinem Oberkörper in die Höhe und warte auf die erneute Bestätigung. "Ja, ehrlich!" "Wie hast du das geschafft?" "Ich habe mit Frau Türk geredet und ihr deine Sicht geschildert. Ob du es glaubst oder nicht, sie hat mir deine Version geglaubt. Vor allem war es hilfreich, dass ich ihr die Schimpfwörter genannt habe, denn das hat der ganzen Sache einen glaubhaften Beigeschmack geliefert!" "Hahaha, wie geil. Und was ist mit dem Baum?" "Eins nach dem anderen. Jetzt war es mir in allererster Linie wichtig, dich da raus zu boxen. Um den Rest kümmere ich mich dann auch noch. Oh und bevor ich es vergesse: Ronny wirst du die nächsten zwei Wochen auch nicht um dich haben müssen! Aber ich werde mal schauen, ob ich noch mehr bewirken kann. Soetwas darf nie wieder vorkommen." Jona verkündet mir die beste Nachricht des Jahrhunderts und rettet mir den Tag. "Dann stehe ich jetzt vielleicht doch auf." Die Müdigkeit scheint wie weggeflogen und mein Kopf denkt schon angestrengt darüber nach, was ich heute alles anstellen könnte.
"Nimm dir für heute Mittag nichts vor!" Jonathan bremst sofort meine Euphorie aus und lässt meine Mundwinkel somit Richtung Boden fallen: "Aber warum? Hab ich Termine?" "Lass dich einfach überraschen!"
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Heute sitze ich auf dem Boden, mit meinem Rücken gegen den Baumstamm gelehnt. Mit meinem Gipsarm lässt es sich leider nicht gut klettern und bevor ich irgendetwas riskiere, begnüge ich mich eben mit der untersten Etage. Meine Ohren vernehmen Schritte, die sich zielsicher nähern. Vorerst schenke ich dem keine Beachtung, da es sicherlich nur Jona sein wird, der mich für eine Inhalation abholen möchte.
Neben mir kommt eine Person zum stehen, deren Schuhe keinesfalls nach denen meines Betreuers aussehen. Als ich meinen Blick nach oben richte, kann ich es kaum glauben. "Hi, Lias!" Paul grinst mir etwas unsicher entgegen und ich selbst muss ziemlich verwirrt aussehen. "Darf ich mich zu dir setzen?" "Ähm, klar. Hat ja genug Platz! Warum bist du hier? Bekomme ich doch noch Ärger, weil ich einfach so aufs Revier gekommen bin?" Eine andere Möglichkeit als Grund für Pauls Erscheinen möchte mir gerade nicht einfallen.
Nachdem mein Onkel neben mir auf dem Boden sitzt, schüttelt er den Kopf und lacht leise vor sich hin: "Nein, ganz und gar nicht. Ich soll dir sogar von Tom, Moritz, Stephan, Marc und Robin Grüße ausrichten. Außerdem sollst du bald mal wieder auf Besuch gekommen!" Irgendwie total verunsichert, da ich jetzt erst recht nicht weiß, warum er hier ist, kratze ich mich am Hinterkopf und bringe nur ein leises "Okay" zustande. Paul mustert mich, versucht unauffällig und bleibt mit seinem Blick direkt an meinem Arm hängen: "Was ist denn da passiert?" "Bin gestern vom Baum gefallen!", seufze ich vor mich hin und verstehe gar nicht, warum er mir nicht seine Beweggründe offenbaren möchte. Mein Onkel beäugt mich einen Moment etwas misstrauisch, stellt aber keine weiteren Fragen, da Kindern sich ja mal gut und gerne irgendein Körperteil brechen.
"Ohje. Das hat sicherlich weh getan! Geht's denn mit den Schmerzen?" "Ich denk schon." "Warum denkst du das nur?", fragt er verwundert. "Ich konzentriere mich nicht auf meine Verletzungen und bekomme so manchmal gar nicht mit, ob ich nun Schmerzen habe oder nicht!" "Das ist interessant!... Lias... Du wunderst dich sicherlich warum ich hier bin.... Es ist so, dass ich dich wirklich gerne kennenlernen würde, wenn du das denn auch möchtest. Mir tut es wahnsinnig leid, dass ich nicht schon viel früher zur Stelle war, aber ich wusste wirklich nichts von dir. Falls du Zeit brauchst, um darüber nachzudenken, ist das kein Problem. Selbst wenn DU mich nicht näher kennenlernen möchtest, werde ich das respektieren!"Mein Blick wendet sich von dem Polizisten ab, da ich mich wie überfahren fühle. Aber nicht wie ein toter Überfahrener, sondern wie einer, der haufenweise Adrenalin produziert, um den ganzen Körper damit zu fluten. Ich kann mich nicht entscheiden, ob die Freude oder die Angst überwiegt. Warum er sich mit mir abgeben will, verstehe ich nicht so ganz, denn ich bringe eine Menge Leid und Probleme in andere Leben. Sich mit mir abzugeben bedeutet Zeitpläne einzuhalten, Risiken abzuwägen, sich Sorgen machen, mich aufzumuntern. Wer sich das freiwillig zumuten will, ist mir unverständlich, denn ich will es ja selbst nicht.
"Hast du vergessen, dass ich krank bin?" Die naheliegendste Schlussfolgerung seiner Handlung besteht in der Vergesslichkeit der Erwachsenen. Vielleicht war Paul auch einfach überrumpelt, als ich ihn im Revier ausgesucht habe und hat meine Worte überhaupt nicht realisiert. "Nein. Aber was spielt das für eine Rolle?" "Weil es anstrengend ist und man immer wieder an irgendwelches Zeug denken muss!" "Das ist mir vollkommen bewusst, Lias!" "Glaube ich nicht. Woher willst du das denn wissen?" "Weil ich mit Jonathan geredet und mich auch selbst informiert und somit etwas schlau gemacht habe!" "Dann kennst du das nur in der Theorie und nicht so richtig, wenn es im echten Leben umgesetzt werden muss!" "Was möchtest du mir damit sagen?" "Na, dass es ... Es ist schwierig mit mir und..." "Lias, du kannst nichts dafür, dass du krank bist. Das gehört nunmal zu dir dazu. Mir ist bewusst, dass es schwierige Momente und für mich sehr viel zu lernen gibt. Aber außer der Krankheit gibt es da auch noch einen Jungen, der mich sehr neugierig gemacht hat!"
Meine Gefühle stehen Kopf. Ein kleiner Teil in mir freut sich, während der größere Teil Paul einfach nur wegschicken möchte. Nicht, weil ich ihn nicht näher kennenlernen will, sondern weil ich ihm mich ersparen möchte.
Obwohl ich es nicht will, übermannen mich meine Gefühle. Der Haufen an belastenden Situationen wird immer größer und langsam wird mir das einfach alles zu viel. Erst geht Anton und meldet sich nicht mehr, obwohl er es mir versprochen hat. Dann die Sache mit Ronny. Natürlich habe ich erst einmal Ruhe vor ihm, aber die Zeit wird schneller vorbei sein, als mir lieb ist und bald wird er wieder seine Tätigkeit aufnehmen. Wer weiß, ob er dann jede Gunst, mir irgendwie weh tun zu können, wahrnehmen wird. Letztendlich kommt jetzt noch mein Onkel hinzu. Kann ich ihm mich zumuten oder beende ich es, bevor es überhaupt anfängt?
Meine stummen Tränen werden leider wahrgenommen und nicht, so wie ich gedacht habe, gar nicht bemerkt. Entgegen meiner Erwartungen ignoriert Paul das nicht, sondern rückt ein Stück auf und legt einen Arm um mich. Dass das die Sache nicht besser macht, sondern nur alles verschlimmert, war ja zu erwarten. Was ich allerdings selbst nicht von mir erwartet habe, ist, dass ich meinen Oberkörper auf seinen Beinen bette und mich meinem Schmerz hingebe. Der Polizist sagt kein Wort. Er fängt nach einiger Zeit nur an, mir durch die Haare zu kraulen, was ich mit geschlossenen Augen genieße. Gefühlt sitzen wir mehrere Stunden hier, bis ich etwas weiter entfernt Schritte auf dem schmalen Steinchenweg näherkommen höre.
"Alles in Ordnung?", will Jona wissen, als er direkt neben meinem Kopf zum Stehen kommt. "Ich weiß nicht genau. Er hat angefangen zu weinen, nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich ihn gerne näher kennenlernen möchte. Er hält sich eher für eine Art Bürde, die man sich auferlegt, wenn man sich mit ihm abgibt!" Paul flüstert schon fast, doch Jona scheint ihn verstanden zu haben, denn der seufzt wissend auf: "Das ist genau das, was ich gemeint habe ... Er wird sicherlich ein bisschen Zeit brauchen, bis er sich mit dem Gedanken anfreunden kann, aber das, was ich hier sehe, stimmt mich schonmal positiv. Möchtest du mitkommen, Paul? Lias sollte inhalieren und dann kannst du dir das gleich mal live anschauen!" "Wenn er nichts dagegen hat, dann komme ich mit!", bestätigt Paul und stoppt seine kraulende Tätigkeit. Ich stelle mich einfach eine Zeit lang schlafend, da ich jetzt gar keine Lust habe zu reden und komme somit in den Genuss von Taxi Jonathan. Der gabelt mich mit einer Leichtigkeit auf seine Arme, wartet bis mein Onkel sich aufgerappelt hat und trägt mich anschließend auf mein Zimmer.
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Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...