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"Geht schon mal rein. Ich bekomme gerade einen Anruf", ruft uns Stephan zu und fuchtelt mit seinem Handy in der Hand herum. "Alles klar", bestätige ich und ziehe die beiden Sporttaschen aus dem Kofferraum. Es bedrückt mich schon sehr, dass Lias' bisheriges Leben einfach so in zwei Taschen verstaut werden kann. Durch ein Kopfschütteln versuche ich mich von diesen negativen Gedanken zu befreien und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich hoffe nur, dass der Kurze noch genug Kräfte hat, um das bevorstehende alles zu verdauen. Dieser Vorfall vorhin hat ihm einiges abverlangt und während der Fahrt hat er nonstop die Augen geschlossen gehalten.

Lias steht wie angewurzelt vor der Haustüre und bewegt sich kein Stück. Es fühlt sich für ihn bestimmt komisch an, woanders als in der Klinik oder im Heim zu sein. "Willst du aufschließen?", frage ich und halte ihm meine rechte Hand hin, die den Haustürschlüssel beherbergt.
Lias nickt vor sich hin und greift mit zitternder Hand nach dem Schlüsselbund. Vorsichtig steckt er den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Türe. Ich laufe ihm bis in den Hausflur hinterher: "Hier, die Türe rechts gehört zu unserem Zuhause." Mein Neffe dreht sich kurz zu mir um und mustert mich einen Augenblick, bevor er sich auch der Wohnungstüre widmet.

Als er sie geöffnet hat, läuft er ein paar Schritte in den Wohnungsflur und bleibt dann stehen, um sich kurz umzuschauen. Ich beschließe die Taschen vorerst hier draußen stehen zu lassen und betrete ebenfalls die Wohnung. "Du darfst gerne weiter laufen. Schau dir alles an!" Nach dieser Aufforderung setzt sich der Bursche wieder in Bewegung und wirft einen kurzen Blick in fast jeden Raum. Das letzte Zimmer auf der rechten Seite betritt er dann sogar, denn das ist sein zukünftiges Zimmer.
Ich lasse ihm kurz Zeit, damit er sich alles in Ruhe anschauen kann und werfe einen Blick zur Wohnungstüre, in der Stephan gerade mit seiner Freundin auftaucht. Carmen war ein paar Wochen beruflich verreist und ist heute morgen wieder nach Köln zurückgekommen. Wir lächeln uns gegenseitig an, ehe mein Kumpel und Carmen die Bude mitsamt den beiden Taschen betreten. Nachdem Stephan diese in einer Ecke abgestellt hat, verschwindet er mit seiner Flamme im Wohnzimmer.

Ich selbst mache mich jetzt auf den Weg zu Lias' Zimmer. Der Junge steht inmitten des Raumes mit tränenverschmierten Gesicht. "Alles in Ordnung?" In mir keimt die Sorge auf, dass ihm das Zimmer doch nicht gefallen könnte oder es ihm gesundheitlich nicht gut geht. "Hast du das etwa alles nur wegen mir gekauft und gemacht?", fragt er mit brüchiger Stimme. Jetzt weiß ich natürlich sofort, woher der Wind weht, überbrücke die paar Schritte zu Lias und lege meine Hände auf seine Schultern: "Nicht wegen dir, sondern für dich. Falls dir irgendetwas nicht gefällt, dann können wir es gerne ändern oder falls etwas fehlen sollte, dann kaufen wir das noch. Ich möchte, dass du dich hier wohlfühlst, denn das ist dein Zimmer und das sollte dir gefallen!" Lias dreht sich zu mir um und schlingt seine Arme um mich: "Danke! Es ist perfekt so wie es ist!" Der Junge schluchzt so herzzerreißend, dass es mich große Mühe kostet, nicht auch gleich zu heulen.

"Das Wohnzimmer hast du noch gar nicht gesehen... Komm, das schauen wir uns als nächstes an!" Damit er sich wieder etwas beruhigt, lenke ich von der Situation ab, schiebe Lias mit beiden Händen am Rücken vor mich her. Wir bleiben direkt im Türrahmen stehen, als uns mit voller Wucht ein mehrstimmiges, lautes "Herzlich Willkommen" entgegenfliegt. Lias zuckt kurz erschrocken zurück und hustet auf den Schreck erst einmal lauthals los, bis ihm fast die Luft ausgeht. Wie es nicht anders zu erwarten war, stehen Linus, Alex und Phil sofort parat und nehmen den Kurzen unter ihre Fittiche. Während der eine Atem Anweisungen gibt, fühlt der andere den Puls und der dritte besorgt schnell ein Glas Wasser, das Lias auch sofort leert. Nachdem sich die Lage beruhigt hat, klatscht Mara in die Hände und schiebt die drei Männer von meinem Neffen weg: "Jetzt lasst den Jungen mal in Ruhe. Wie soll er denn genug Luft bekommen, wenn ihr ihm den Sauerstoff vor der Nase wegschnappt?" Lias fängt an zu grinsen und nuschelt ihr ein "Danke" entgegen. "Gar kein Problem. Die drei muss man manchmal etwas bremsen. Die sind gerne mal übereifrig. Ich bin übrigens Mara, Alex' Frau!" Sie streckt Lias ihre Hand entgegen, die er sofort ergreift: "Du bist voll hübsch!" "Hahaha. Vielen Dank, Lias. Das ist lieb von dir!"
"Das ist aber meine Frau, junger Mann!", ruft Alex amüsiert, was Lias kurz auflachen lässt, ehe sich Anton an Mara vorbei drängt und meinen Neffen stürmisch umarmt. "Wie war deine Motorradfahrt? Gefällt dir dein Zimmer? Wie war die Verabschiedung? Hast du Lotta gesehen? Wer war alles da? Wa...", prasselt es ohne Punkt und Komma auf Lias ein. Alex unterbricht seinen Sohn, indem er ihm seine Hand auf den Mund schiebt: "Auch dein Körper braucht ab und zu mal Sauerstoff. Gönn ihm reichlich davon!" Antons anschließendes Augenverdrehen kommentiert Lias wieder mit einem Lachen.

Lias will glücklich seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt