Mittlerweile warte ich schon seit mehr als einer Stunde auf einen der Ärzte, der mir mitteilt, dass Lias seine Untersuchung hinter sich gebracht hat. Stephan und Tom habe ich nach Hause geschickt, denn die beiden haben morgen Frühdienst. Allerdings musste ich ihnen hoch und heilig versprechen, dass ich ihnen Bescheid gebe, sobald der Kurze wieder wach ist und ich weiß, ob alles gut verlaufen ist.
Der Wartebereich ist heute gar nicht so überfüllt wie sonst, was schade ist, denn dadurch habe ich weniger zu gucken und kaum Ablenkung. Das einzig Interessante ist, dass Alex schon gefühlt hundert mal in den Gängen herum gewuselt ist, obwohl er, nach seiner zivilen Kleidung zu urteilen, schon Feierabend hat. Aber wie es eben so manchmal ist, können noch Notfälle oder irgendwelche liegengebliebene Berichte den Aufbruch nach Hause verzögern.
“Paul?”
Ich schrecke kurz zusammen, da ich nicht erwartet habe, dass jemand neben mir steht. Phil grinst breit und schüttelt seinen Kopf: “Ich bin es nur!” “Boah, sorry. War gerade in Gedanken. Was machst du denn hier? Musst du aushelfen?” “Jup. Es herrscht mal wieder an allen Fronten Mangel”, stöhnt der Lockenkopf genervt auf und lässt sich neben mir auf einem der Stühle nieder. “Linus hat mir heute morgen von deinem Neffen erzählt. Wir haben uns kurz gesehen, als er nach Hause gekommen ist und ich zum Dienst aufgebrochen bin. Das ist ja der absolute Hammer, dass dir deine Schwester nichts von ihrem Kind erzählt hat!” “Tja, da hat sie meine Worte einmal im Leben tatsächlich ernst genommen. Ehrlich gesagt hätte ich nie geglaubt, dass sie einmal ein Kind bekommen würde. Schon alleine deswegen, da sie eigentlich nie eins wollte. Sie hätte meiner Meinung nach aber über ihren Schatten springen und mir Bescheid geben können. Dann hätte Lias nicht so leiden müssen. Aber was weiß ich schon, was in ihrem Kopf vorgeht. Falls es da überhaupt noch etwas anderes als Drogen und Co gibt… Aber egal. Jetzt weiß ich ja von ihm und kann vielleicht wenigstens seine Zukunft schöner gestalten. An der Vergangenheit lässt sich nichts ändern.” Ich merke schon nach den ersten Sätzen, dass mich eine unbändige Wut überkommt und ich dieses Thema, das meine Schwester beinhaltet, lieber nicht weiter ausführen sollte. Jetzt gilt es meine volle Konzentration auf Lias zu legen und mich nicht unnötig über das Vergangene aufzuregen. “Solche Handlungen werden wir auch nie verstehen können, Paul. Aber wie du sagst, es zählt jetzt nur das, was kommt und nicht das, was war. Linus hat gesagt, dass er Dr. März informiert hat, zwecks einer eventuellen Behandlungsübernahme?” “Ja. Zumindest möchte ich eine zweite Meinung hören, denn der jetzige Arzt scheint mir ungeeignet zu sein. Lias schläft nach den Inhalationen immer ein und er bekommt das Sekret kaum abgehustet. Das kann ja nicht sein, dass der Junge mehr leiden muss, als nötig!” “Absolut richtig gehandelt. März hätte ich dir auch empfohlen. Ist wirklich ein fähiger Arzt.” Phil wirft einen Blick auf seine Armbanduhr und erhebt sich dann wieder: “Komm mit. Ich bringe dich hoch zu deinem Neffen. Er dürfte mittlerweile in seinem Zimmer angekommen sein. Freddy wartet dort auf dich und gibt dir Infos über den Eingriff!”Phil begleitet mich bis vor die Zimmertüre und verabschiedet sich, da er wieder an die Arbeit muss. Natürlich will auch er sich bald mit mir treffen und näheres über meinen Neffen wissen und ihn kennenlernen. Das Angebot, mich zu melden, wenn wir medizinische Hilfe brauchen, nehme ich dankend an und betrete anschließend die vorübergehende Bleibe meines Neffen.
Freddy fummelt gerade an einer Infusion herum, als ich mich neben das Bett stelle und den blassen Jungen darin mustere. Von seinem Körper führen einige Kabel zu einem Monitor, der seine Werte überwacht und sein Gesicht ziert ein schmaler, durchsichtiger Schlauch, der ihm über die Nase Sauerstoff zuführt.
“So. Hallo, Paul. Wie ich gehört habe, ist Lias dein Neffe?” “Hi, Freddy. Ja genau. Ist alles gut verlaufen?” Auf Smalltalk habe ich gerade absolut keine Lust und möchte lieber wissen, ob es dem Kerlchen gut geht. "Ja. Wir haben eine große Menge Schleim abgesaugt, der sich extrem in den Bronchien festgesetzt hatte. Das war dringend nötig. Linus hat ja schon alles in die Wege geleitet und einen Kollegen für morgen hierher bestellt. Für die nächsten paar Stunden wird Lias' Hals empfindlich sein. Vermehrtes Husten, Halskratzen und eventuelle minimale Blutbeimengungen im Auswurf sind normal. Da müsst ihr euch keine Sorgen machen. Er wird womöglich durchschlafen, da er eh schon erschöpft war und das Narkosemittel sein übriges dazu getan hat. Möchtest du denn über Nacht bei ihm bleiben?" "Ja, wenn das möglich ist... Ich würde ihn nur ungern alleine lassen!" "Na klar. Dann bringt dir eine Schwester gleich eine Schlafgelegenheit auf Lias' Zimmer. Morgen, sobald Lias einigermaßen fit ist, werden wir ihm ein Mittelchen verabreichen, damit er seinen Darm entleeren kann. Ich hoffe, dass es gut anschlägt, denn allzu lange können wir das so nicht verantworten. Wird morgen nochmal ein harter Tag werden!" "Was muss das muss. Ich bin den ganzen Tag an seiner Seite und unterstütze ihn!" "Das freut mich. Mir hat der Bursche immer so leid getan, da er ganz selten Besuch bekommen hat. Tabea hat auch immer schwer schlucken müssen, als sie im Ärztezimmer erzählt hat, wie viel der Bursche geweint hat.” Diese Information ist nicht gerade förderlich für mein Gemüt. Dass Jonathan oder einer der anderen Betreuer die Einzigen waren, die Lias besucht haben und diese Zeit nur knapp bemessen ist, ist mir auch ohne diesen Hinweis bewusst gewesen.
Freddy schiebt seine Brille den Nasenrücken nach oben und seufzt kurz: "Tut mir leid. Hätte wohl erst nachdenken und dann reden sollen... Bei Lias wird in regelmäßigen Abständen die Temperatur kontrolliert, also wundere dich nicht, wenn nachts ein paar Mal eine Schwester auftaucht. Falls etwas sein sollte, meldest du dich. Ja?" "Klar. Mache ich. Danke!" Nachdem Dr. Seehauser die Biege gemacht hat, laufe ich schnell zu der Schwesterkanzel, um mir eine Flasche Wasser geben zu lassen. Der Kleine wird sicherlich durstig sein, wenn er aufwacht und meinem Körper würde es auch nicht schaden, wenn er mal wieder etwas Flüssigkeit zugeführt bekommt. Als ich mit Wasserflasche und zwei Gläsern den Flur entlang laufe, sehe ich Alex, wie er zwei Türen weiter in einem der Zimmer verschwindet. Um mir darum jetzt auch noch Gedanken zu machen, bin ich viel zu müde und stemple das als ärztlichen Pflichtbesuch ab.
Kaum habe ich einen Fuß in Lias’ Zimmer gesetzt, kommt eine Schwester und rollt eine klapprige Liege herein. Diese wird an der linken Wand, mit etwas Abstand zu Lias’ Bett, abgestellt und auseinandergeklappt. Ich bedanke mich bei der jungen Frau und stelle die Flüssigkeitsversorgung auf dem Nachttisch ab.
Ein leises Husten erregt meine Aufmerksamkeit. Ich setze mich sofort auf die Matratze meines Neffen und greife nach seiner Hand. Seine Augenlider flattern leicht, bevor er schwach mit seinen Fingern gegen meine Hand drückt, als wenn er sich davon überzeugen möchte, dass er tatsächlich festgehalten wird. Nach einem erneuten Husten öffnet er auf Halbmast die Augen und lächelt mich leicht an. "Hey, du tapferes Kerlchen. Wie fühlst du dich?" Da ihm allem Anschein nicht zum Reden zumute ist, nickt er mir nur leicht zu und zieht meine Hand näher an seinen Körper. "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bleibe heute Nacht hier. Neben deinem Bett steht eine Liege, auf der ich schlafen werde. Du kannst mich jederzeit wecken!"
"Danke!", krächzt mir Lias entgegen und schließt wieder seine Augen. Ich streiche ihm ein paar Mal sanft durch die Haare und mustere sein Gesicht in dem schwachen Nachtlicht. Auch wenn er kreidebleich ist, seine Lippen spröde und unübersehbare Schatten unter seinen Augen vorzufinden sind, ist der Junge ein bildhübsches Exemplar. Er hat viele Ähnlichkeiten mit seiner Mutter, die in jungen Jahren ebenso hübsch gewesen ist. Damals, als sie noch nicht von Drogen gezeichnet war.Als Lias' Hand nur noch schlaff in meiner hängt, lasse ich von ihm ab und ziehe ihm seine Decke bis unter das Kinn. Da ich jetzt auch ziemlich platt bin, begebe ich mich in das kleine Bad und ziehe mich bis auf T-Shirt und Boxershorts aus. Durch eine Ladung Wasser erfrische ich mein Gesicht und schlürfe anschließend zu meiner nächtlichen Ruhestätte. Obwohl der Monitor piepst, schlafe ich im Handumdrehen ein, denn diese ganze emotionale Achterbahn heute hat auch mich ziemlich geplättet.
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Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...