Zusammen mit meinem Kollegen betrete ich die Pforten des Kinderheims. Kaum stehen wir auf dem elend langen Flur, dessen Boden mit glänzenden, blauen Fliesen ausgekleidet wurde, tritt auch schon ein kleines Mädchen, schätzungsweise zirka sechs Jahre alt, an uns heran: "Verhaftet ihr endlich den Simon? Der hat mir heute schon wieder meinen Pudding geklaut!" Mir tritt sofort ein Schmunzeln auf die Lippen, während ich mich in die Hocke begebe, um dem Kind auf gleicher Höhe zu begegnen: "Wegen Simon sind wir heute eigentlich nicht da, aber wenn du möchtest, können wir gerne mit ihm reden!" "Auja!" Das Mädchen überlegt ganz kurz und zieht darauf eine zuckersüße Schnute: "Warum bist du dann da?" "Wir wollen gerne zu Lias Richter. Kennst du den zufällig?" Die Kleine reißt ihre Augen weit auf und wirkt etwas geschockt: "Hat Jonathan die Polizei gerufen?" "Nein, uns hat niemand gerufen. Warum sollte Jonathan das denn getan haben?" Der rothaarige Lockenkopf nähert sich mir einen Schritt und beugt sich leicht zu meinem Ohr, damit es niemand anderes mitbekommt: "Der Lias ist heute abgehauen. Jona war richtig wütend, weil der Lias doch so krank ist und einfach weg war!" "Oh, das ist nicht gut. Ist Lias denn wieder da?" "Weiß ich nicht!" Nachdem sie mit den Schultern gezuckt hat, tritt die Kleine wieder einen Schritt zurück und nimmt ganz offensichtlich Stephan unter die Lupe.
Nachdem dieser ein breites Grinsen auf seinem Gesicht hat blicken lassen, wendet sich das Mädchen wieder mir zu: "Was willst du denn jetzt von Lias?" "Kannst du mir zeigen, wo sein Zimmer ist?", frage ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht. "Fremde dürfen nicht einfach zu Kindern!" Mit verschränkten Armen inspiziert der Lockenkopf unsere Uniformen und scheint sich zu überlegen, ob sie eine Ausnahme für die Polizei machen würde. "Da hast du natürlich absolut recht. Super! Kannst du uns dann vielleicht zu einem Betreuer bringen?" "Zu Jonathan?" "Ist das denn ein Betreuer?" "Na klar, sonst hätte ich seinen Namen nicht gesagt!", kommt es mir leicht genervt entgegen. "Okay, würdest du uns dann bitte zu Jonathan bringen?" "Aber nur, wenn der da dann den Simon schimpft!" Blitzschnell wandert ein kleiner Zeigefinger in Stephans Richtung, worauf mein Kollege natürlich sofort zustimmt: "Dann machen wir das so: Du bringst uns zuerst zu dem Betreuer und so lange wie Paul mit ihm spricht, statten wir beide Simon einen Besuch ab, okay?" "Jaaaa!" Das kleine Mäuschen dreht sich einmal im Kreis und hüpft anschließend wie ein aufgedrehter Flummi den Flur entlang. So ziemlich in der Mitte läuft die Kleine nach rechts, direkt auf ein paar Treppenstufen zu. Das Holz der Stufen hat auch schonmal bessere Zeiten gesehen, denn das Knarzen bei jedem einzelnen Schritt ist bestimmt im kompletten Haus zu hören. Oben angekommen biegen wir nach rechts in einen weiteren Flur ab.
Fast am Ende des Gangs bleibt die Rothaarige abrupt vor einer Türe stehen: "Vielleicht ist Jonathan da drin!" "Vielleicht?", wiederhole ich skeptisch das genannte Wort. Augenverdrehend wendet sich die Kleine der Türe zu und klopft mit der Faust gegen das Holz.Eine raue Männerstimme ertönt, womit ich mir sicher sein kann, dass der Betreuer dort in diesem Zimmer zu finden ist. "Ich bin's, Lotta. Die Polizei ist da und will zu Lias!" "Lotta, ich habe gerade keinen Sinn für irgendwelche Späße!", brummt die männliche Stimme, worauf das kleine Mäuschen ihre Hände in die Hüften stemmt: "Aber der Mann hat gesagt, er ist von der Polizei. Stimmts? Und die Klamotten trägt sonst auch nicht jeder!" "Dann mach kurz die Türe auf und lass mal sehen." Überzeugt scheint der Herr nicht zu sein, aber nachdem das Mädchen die Türe geöffnet hat und der Mann einen Blick auf uns werfen konnte, scheint ihm sein Verhalten peinlich zu sein: "Oh, entschuldigen Sie... Die Kinder spielen einem manchmal Streiche und..." Damit dieser Jonathan sich nicht weiter erklären muss, falle ich ihm gleich ins Wort: "Kein Problem. Können wir vielleicht kurz miteinander reden?" "Sicherlich. Allerdings kann ich hier gerade nicht weg. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann kommen sie doch herein... Lotta, kleines? Lässt du uns bitte alleine? Danke, dass du die Herren zu mir gebracht hast!"
Lotta geht gar nicht auf die ihr entgegengebrachten Worte ein, sondern schnappt sich sofort Stephans Hand: "Gehen wir jetzt gleich zu Simon?" "Lotta! Bitte lass den Polizist in Ruhe. Ich habe schon mit Simon geredet und..." Jonathan kann seinen Satz gar nicht beenden, denn er wird sofort unterbrochen: "NEIN! Der hört aber nicht auf dich!" Lotta wird auf einen Schlag richtig wütend und stampft unterstützend mit ihrem Fuß auf den Boden. Mein Kollege grätscht sofort dazwischen, damit uns die tickende Bombe nicht um die Ohren fliegt: "Das ist kein Problem. Wir besuchen jetzt Simon und kommen im Anschluss wieder hierher!" Nachdem mein Kollege mit Lotta abgezogen ist, betrete ich das Zimmer und schließe die Türe hinter mir.
Der Betreuer legt eine Inhalationsmaske beiseite, die an einem größeren Gerät angeschlossen ist und streicht dem schlafenden Lias durch die Haare. Mein Blick haftet auf dem kleinen, dünnen Jungen, der viel blasser aussieht als zuvor bei uns auf dem Revier. "Was kann ich denn für Sie tun?" Die Frage reißt mich aus meiner Starre und ich wechsle mit meinem Blick zu dem jungen Mann, der mich interessiert mustert. "Ähm, Lias war heute bei uns auf dem Revier und hat dort seinen Rucksack vergessen." Um ihm zu beweisen, dass diese Aussage der Tatsache entspricht, halte ich den Rucksack in die Höhe. "Oh, okay. Was wollte er denn bei Ihnen?" Der Betreuer zieht seine Augenbrauen zusammen und wirft wieder einen Blick auf seinen Schützling. "Na ja... Er hat nach mir gesucht. Ich bin Paul Richter, der Onkel von Lias!" Für einen kurzen Moment ist es mucksmäuschenstill im Raum. Der Betreuer sieht so aus als wäre er sich nicht sicher, ob er mich richtig verstanden hätte. "Bitte was?" Mein Gegenüber scheint aus allen Wolken zu fallen, was ich nur allzu gut nachvollziehen kann. So ging es mir vor ein paar Minuten ebenfalls. "Bis zu diesem Besuch wusste ich nichts von meinem Neffen und war genauso überrascht wie Sie jetzt!" Um dem Mann etwas Zeit zum Verdauen zu geben, wende ich meinen Blick ab und schaue mich in dem Zimmer um.
An den Wänden hängen ein paar Fotos auf denen Lias und ein anderer Junge zu sehen sind. Des Weiteren hängt ein Poster von einem Strand direkt neben seinem Bett und an der Decke wurden leuchtende Stern Sticker angebracht.
"Sie müssen mich entschuldigen... Ich wusste nicht, dass es noch Verwandte gibt. In der Akte steht, dass Lias außer seiner Mutter keinerlei Verwandtschaft besitzt und mir war keinesfalls bekannt, dass Lias anscheinend wusste, dass er einen Onkel hat!" "Kein Problem, ich.... Ich muss das auch erst einmal realisieren!", gebe ich leise von mir und mustere wieder meinen neu gewonnenen Neffen, der völlig weggetreten in Jonathans Armen liegt. "Sollen wir vielleicht wo anders weiter reden? Lias wird jetzt eh eine Zeit lang schlafen. Aber natürlich nur, wenn sie das wollen!" Auch wenn ich immer noch völlig neben der Spur laufe, möchte ich doch einiges über Lias in Erfahrung bringen. Wenn er sich schon die Mühe gemacht hat, mich zu finden, dann werde ich nicht einfach so wieder aus seinem Leben verschwinden und ihn links liegen lassen.
"Ja, gerne. Soll ich irgendwie behilflich sein?" "Nein, danke. Ich bin in Übung!", versichert mir der Betreuer und legt vorsichtig den Körper des Jungen auf der Matratze ab. Bevor er aufsteht, legt er ein paar Kissen als Erhöhung zurecht und zieht Lias' Oberkörper anschließend auf diesen Kissenberg. Seine Hand gleitet abermals durch die verwuschelte Haarpracht, bevor er sich von ihm abwendet und auf die Zimmertüre zuläuft. Ich stelle schnell den Rucksack neben dem Schreibtisch ab und folge dem Betreuer nach draußen.
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Huhu Suchtis. Ihr bekommt nachher noch ein zweites Kapitel. Hatte heute mal ein bisschen Luft und konnte das möglich machen 💚💙💚Eure Rojo💙💚💙
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Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...