Hustend und röchelnd komme ich im Heim an. Wie es scheint hat das Abendessen schon begonnen und mir schwant schon die leise Vorahnung, dass ich noch mächtig Ärger bekommen werde. Als ich, wie ich insgeheim denke, ungesehen in mein Zimmer schlüpfe, bleibt mir fast mein Herz stehen. Auf meinem Bett sitzt Jonathan und der sieht alles andere als begeistert aus. Wenn nicht schon an der Grenze zum bitterbösen.
"Hi", flüstere ich ihm eine Begrüßung zu und wünsche mir im selben Moment, mich in Luft aufzulösen. Sein Blick trifft mich hart und verdeutlicht mir, dass ich es heute auf alle Fälle verschissen habe: "WO warst du?" "Ähm.... Draußen?" Auf die Schnelle will mir nichts besseres einfallen. Vielleicht hätte ich mir genau für diesen Fall auch ein paar Worte zurechtlegen sollen. Jetzt ist es aber zu spät dafür. "Ich habe alles abgesucht und dich nirgends gefunden. Also, wo warst du?", knurrt er mir weiterhin entgegen und erhebt sich von meinem Bett, um in voller Größe auf mich zuzulaufen.
"Anscheinend da, wo du mich nicht gesucht hast!" Ein Druck auf meinem Brustkorb und ein kratziges Gefühl im Hals verleiten mich zum Husten. Die ganze Aufregung scheint mir nicht gut zu bekommen. "Du hast zwei Inhalationen ausgelassen. Deine Tablettenbox ist verschwunden und somit gehe ich davon aus, dass du deine Tabletten auch nicht genommen hast, oder? Herrgott Lias, du weißt doch, wie wichtig das ist! Warum bringst du dich selbst in Gefahr?"
"Doch, meine Tabletten habe ich genommen! Ehrenwort!"Als ich hinter mich greife, um den Rucksack von meinen Schultern zu nehmen, fällt mir das erste Mal auf, dass ich den wohl auf dem Revier vergessen haben muss. "Aha und wie hast du sie transportiert?" "In meinem Rucksack", flüstere ich vor mich hin. Der Druck breitet sich langsam aus und mein Husten verschlimmert sich. Ich merke, dass zu viel Schleim auf meinen Bronchien sitzt, doch er lässt sich nicht richtig abhusten.
Jonathans Gesichtsausdruck verändert sich schlagartig von bitterböse zu mitfühlend: "Komm her zu mir!" Ohne zu zögern begebe ich mich in die Arme des Betreuers und huste so stark wie möglich mit der Hoffnung, dass bald Erleichterung eintrifft.
Pauls Sicht
Ich starre immer noch die offene Türe an, durch die mein Neffe gerade wie von der Tarantel gestochen hindurch gerannt ist.
"Paul?" Stephan unterbricht mein Starren durch die Präsenz seines Körpers in meinem Blickfeld. "Mh?" "Alles okay?" Langsam gleitet mein Blick zu Stephans Augen, die mich leicht besorgt mustern. "Keine Ahnung. Irgendwie war das... total... unerwartet." Bessere Worte kann ich in meinem zermatschten Kopf gerade nicht zusammen basteln."Hast du gar nicht gewusst, dass deine Schwester ein Kind hat?", will mein Kollege wissen, obwohl er einer der Wenigen wäre, die davon wissen würden, wenn ich es selbst gewusst hätte. "Nein! Sonst wäre ich jetzt ja eventuell auch nicht aus allen Wolken gefallen!", gebe ich leicht genervt wieder und schließe für einen kurzen Moment die Augen. "Also, der Junge ist eindeutig aus Richter-Holz geschnitzt. Die große Klappe kann er wirklich nicht leugnen", wirft Marc jetzt von der Seite ein und lacht leise vor sich hin.
"Paul, der Kleine hat seinen Rucksack vergessen!" Als ich meine Augen wieder öffne, hält Stephan schon den blauen verschlissenen Gegenstand in der Hand und führt ihn mir anschließend vor die Augen. Seufzend nehme ich den Rucksack entgegen und stelle ihn auf meinem Schoß ab: "Hat er da nicht seine Tabletten drin? Mist!" Ohne großartig darüber nachzudenken, öffne ich den Reißverschluss und bekomme auch sofort die Medikamentenbox zu greifen: "Ja, hier haben wir sie schon. Da sind auch welche drin, die er heute noch einnehmen muss!" "Weißt du, in welchem Heim er untergebracht ist? Dann könnten wir ihm die schnell vorbei bringen!" Manchmal muss ich über Stephan schon den Kopf schütteln. Wenn ich nicht mal von diesem Kind wusste, woher soll ich dann wissen, in welchem Heim er untergebracht ist. "Nein, woher denn auch? Ich schaue mal, vielleicht findet sich hier eine Adresse."
Um kurzen Prozess zu machen, drehe ich den Rucksack um und leere den Inhalt direkt auf meinen Schreibtisch. Neben einem Päckchen Kaugummi, einem Müsliriegel und einer Art Notizbuch, lässt sich leider nichts weiteres finden. Somit nehme ich das Büchlein zur Hand und blättere durch die Seiten. Auf den meisten sind nur irgendwelche Kritzeleien zu finden, doch so ziemlich mittig in dem Buch, stoße ich auf eine fein säuberlich geschriebene Liste. Damit meine Kollegen auch gleich im Bilde sind, lese ich das Geschriebene laut vor:
"Zwanzig Dinge, die ich vor meinem Tod erleben möchte!" Mir bleibt bei diesen Worten fast die Spucke im Halse stecken. Schon alleine die Tatsache, dass das Wort 'Tod' von einem Zehnjährigen aufgegriffen wird, macht mich fast schon fertig.Da Stephan und Marc mir an meinem Gesicht ablesen können, dass ich gerade kein Wort mehr aus meinem Mund herausbekomme, gesellen sie sich an meine Seite und lesen die aufgeführten zwanzig Punkte selbst.
1 • Am Lagerfeuer sitzen, Würstchen und Stockbrot grillen
2 • Skateboard fahren lernen ✅️
3 • ein Baumhaus bauen
4 • meinen Onkel kennenlernen
5 • mit Anton ans Meer
6 • ein Kuss mit einem hübschen Mädchen
7 • auf einem Motorrad mitfahren
8 • mit Anton unter dem Sternenhimmel schlafen
9 • einen Film Marathon starten
10 • Haare in einer verrückten Farbe färben
11 • mein erstes eigenes Geld verdienen und mir davon kaufen, was ich will
12 • einen Wettkampf mitmachen dürfen
13 • so viel Eis essen bis mir schlecht wird ✅️
14 • Helikopter fliegen
15 • eine Zeitkapsel erstellen
16 • auf einen Jahrmarkt oder Rummel gehen
17 • in ein Planetarium gehen
18 • Schlitten fahren und einen Schneemann oder ein Iglu bauen
19 • mehr von der Welt sehen (alles außerhalb von Köln)
20 • glücklich sein!Es treibt mir fast Tränen in die Augen, als ich die Punkte allesamt durchgelesen habe. Alleine der letzte Punkt, der im Normalfall selbstverständlich sein sollte, macht mich fertig. "Das ist hart", flüstere ich vor mich hin, worauf mir Stephan eine Hand auf die Schulter legt und leichten Druck ausübt.
"Ich hab da was!" Marc hält mir die Tablettenbox unter die Nase, auf deren Rückseite ein Adressaufkleber des Heims zu finden ist. Ich atme schwer durch und werfe einen Blick zu Stephan: "Kommst du mit?" "Logo! Lass uns gleich gehen, damit Lias seine Tabletten bekommt!" Mein Kollege packt Lias' Sachen wieder in den Rucksack und fordert mich mit einem Rückenklopfen auf, mich endlich von meinem Stuhl zu erheben.
Bei unserem Streifenwagen angekommen, setze ich mich sofort freiwillig auf den Beifahrersitz, da mein Gehirn gerade mit anderen Dingen beschäftigt ist, als zusätzlich auf den Straßenverkehr zu achten. Herr Sindera lotst uns durch die Innenstadt und wirft immer mal wieder einen verstohlenen Blick zu mir. "Ich bin gerade ein bisschen Überfordert. Was mache ich denn jetzt?" "Paul! Erst einmal ganz ruhig bleiben. Der Kleine hat dich regelrecht überfahren und dass du jetzt neben der Spur läufst, ist ganz normal. Wenn wir dort ankommen, können wir den Rucksack einfach nur abgeben oder du redest mit Lias oder einem der Betreuer, wenn dir danach ist. Wenn du erst noch Zeit zum Verdauen brauchst, dann nimm sie dir. Keiner würde dir einen Vorwurf machen!" Auf Stephans Worte hin nicke ich ein paar mal und versumpfe anschließend in meinen Gedanken, bis wir an unserem Zielort ankommen. Was genau letztendlich mein Plan ist, weiß ich nicht, das lasse ich wirklich einfach auf mich zukommen.
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Lias will glücklich sein
FanfictionAls wäre das Leben mit einer täglich quälenden Erkrankung nicht schon schwer genug, muss Lias sich von seinem besten Freund Anton verabschieden. Die beiden Heimkinder hatten so viele Dinge zusammen geplant, die Lias helfen sollten, im täglichen Kamp...