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Immer noch Jonathans Sicht

Als ich am nächsten Tag meinen Dienst antrete, ist die Stimmung auf einem absoluten Tiefpunkt. Meine Kollegen meiden es, mit mir zu sprechen und mir wird sofort klar, dass irgendetwas mit Lias vorgefallen sein muss. Ich könnte im Vorfeld schon schwören, dass Ronny ebenfalls etwas damit zu tun hat und darum keiner ein Wort mit mir wechseln möchte. Obwohl ich explizit Carlos beauftragt habe, sich Lias anzunehmen, kann es manchmal passieren, dass andere Notfälle auftreten und der eigentlich angewiesene Betreuer eben doch nicht seinem Auftrag nachkommen kann.

Bei der Teambesprechung bekomme ich sofort die Fakten von der Heimleiterin unter die Nase gerieben: "Kommen wir zum letzten Punkt: Lias. Jonathan, Lias hat sich gestern außerordentlich unkooperativ gezeigt. Herr Fuchs hatte wirklich Schwerstarbeit zu leisten!" Das Frau Türk nur um den heißen Brei herumredet und nicht sofort alles preisgibt, lässt mich böses erahnen. "Warum hat Ronny sich um Lias gekümmert? Eigentlich hatte ich Carlos beauftragt...." "Jaaa, aber Lotta wollte sich nur von Carlos beruhigen lassen und somit musste Herr Fuchs dann eben.. Spielt ja auch keine Rolle. Lias muss jedem Betreuer gehorchen und nicht nur ihnen oder Carlos. Er hat den heutigen Tag Stubenarrest und darf sich nur zu den Mahlzeiten aus seinem Zimmer begeben!" "Ja und was hat er angestellt?", will ich wissen, worauf meine Chefin laut aufschnaubt: "Er hat sich geweigert, den Baum herunter zu klettern. Als er den mehrmaligen Aufforderungen nicht nachgekommen ist, musste Herr Fuchs durchgreifen. Lias hat sich mit Tritten gewehrt und somit hat Herr Fuchs den Jungen ungeschickt am Fuß erwischt und leider etwas ruppig von dort oben runtergezogen. Die Nacht über hat er somit in der Notaufnahme verbracht, da der Unterarm einen glatten Durchbruch erlitten hat. Unsere Überlegungen sind jetzt, ob wir diesen Baum fällen werden oder..." Mir entgleisen sofort jegliche Gesichtszüge und ich unterbreche die Schreckschraube in ihrem weiteren Wortschwall: "BITTE WAS? LIAS HAT SICH DEN ARM GEBROCHEN?" "Ja ja, aber es musste nicht operiert werden. Er..." Dass Frau Türk diese Sache so abtut, als habe sich Lias nur das Knie aufgeschürft, macht mich wirklich wütend: "Entschuldigung, aber das kann doch nicht sein, dass Lias derart von dem Baum gezogen wird, das er sich den Arm bricht!" "Der Arzt meinte, dass er ungeschickt gefallen ist. Nun ja, der Gips bleibt sechs Wochen am Arm. In drei Wochen gibt es ein Kontrollröntgen. Schmerzmittel hat er vor etwa einer Stunde bekommen und damit hätten wir diese Punkte dann auch geklärt!" Ich funkle die Frau mir gegenüber wütend an: "Da ist noch lange nicht alles geklärt! Ich werde mir Lias' Sicht anhören und dann möchte ich ein klärendes Gespräch, zusammen mit Ronny!" "Jonathan, auch ihr Schützling muss sich an die Regeln halten und nur weil gerade alles etwas schwierig für ihn ist, können wir ihn nicht die ganze Zeit in Watte packen!" "Nein, in Watte nicht. Aber etwas mehr Rücksichtnahme kann man meiner Meinung nach schon verlangen!" Damit habe ich vorerst gesagt, was gesagt werden muss und verlasse vorzeitig die Besprechung.

Im Stechschritt durchquere ich den Flur, springe die Treppe in das obere Stockwerk hoch und komme letztendlich an Lias' Zimmer an. Nach einem kurzen Klopfen betrete ich das Zimmer und finde Lias in seinem Bett vor. Zu einer Kugel zusammengerollt und mit geschlossenen Augen. Sein rechter Arm ist von einem Gips und einem roten Verband umhüllt. Vorsichtig setze ich mich zu dem Jungen dazu und streiche ihm einmal durch die Haare. Ein leises "Hi" ertönt, doch die Augen des Jungen bleiben weiterhin geschlossen.

"Hi. Wie geht es dir?" "Mein Arm tut weh!", krächzt es mir leise entgegen. "Wirkt das Schmerzmittel gar nicht?", frage ich verwundert, worauf ich nur ein Schulterzucken als Antwort bekomme. "Hast du überhaupt etwas bekommen und die Tablette auch eingenommen?" Diesmal folgt ein Kopfschütteln, dass ich genauer hinterfragen muss: "Lias, du musst schon mit mir reden. Wenn ich nicht weiß, was los ist, kann ich dir nicht helfen!" "Ich habe die Tablette nicht genommen!" "Aber warum denn nicht?" "Hatte keine Lust dazu!" "Ich weiß, dass du genug Pillen schlucken musst, aber die Schmerzen sind doch bestimmt sehr unangenehm. Das musst du nicht aushalten. Soll ich dir lieber ein Zäpfchen organisieren?" Kaum ausgesprochen, reißt Lias seine Augen weit auf: "Nein, niemals! Dann nehme ich lieber die Tablette!" "Also gut, wo ist sie?" Ich danke Gott dafür, dass die Nummer mit dem Zäpfchen immer noch zieht und mein Kleiner sich dann doch überwinden kann, die Tablette zu nehmen. "Unter meinem Kopfkissen!" Ich strecke mich einmal über den Körper des Jungen hinweg und tauche mit meiner Hand unter das Kopfkissen.

Lias will glücklich seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt