21.Kapitel

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Die Dankbarkeit, die ich fühle, breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Die Erleichterung, die mit dem Nicken der Ärztin und der Bestätigung, dass Bolat doch noch lebt, will nicht verschwinden. Meine Gedanken drehen sich nur noch um meinen Bruder. Ich denke an nichts anderes mehr. Gewollt, aber auch ungewollt. Es wäre einfach nur absurd und schlecht von mir, wenn ich an etwas anderes als ihn denken würde. Mir ist den Ernst der Lage bewusst. Bolat hat Selbstmord begangen. Selbstmord ist nichts Alltägliches, normales oder verständliches. Ich sollte für ihn da sein, auch wenn es mich Überwindung kosten wird, nicht so ... so kühl zu sein. Ich tue es schon seit Monaten. Äußerlich zeige ich keinerlei Gefühle, Emotionen oder Reaktionen. Außer Wut vielleicht ein bisschen. Für Bolat werde ich es versuchen. Aber auch nur für Bolat. Für andere werde ich es nicht tun. Will ich nicht. Tue ich nicht. Und das interessiert mich auch kein bisschen. Meine Arme sind vor meiner Brust verschränkt, während ich vor dem offenen Fenster stehe und den leichten Wind genieße. Alle sind im Zimmer und die ganzen Stimmen, die sich vermischen, bereiten mir tatsächlich noch keine Kopfschmerzen.

Und mit alle, meine ich auch alle. Emirhan, Daran, Hakan, Halil, Lale und Eda. Ach ja und- ,,Würde man mich fragen, ob ich ein Nutellabrot lieber mit oder ohne Butter esse, würde ich ganz klar mit sagen." höre ich die Stimme von Pamuk und kann mir ein genervtes Augenrollen nicht verkneifen. Was macht sie denn eigentlich hier? Niemand hat sie hergerufen. Vielleicht Hakan, aber das ist mir egal. Ich will nicht, dass sie hier ist. Kann sein, dass sie versucht Bolats Laune und einfach die Stimmung im Raum zu lockern, aber trotzdem. Atme leise aus und spüre einen stechenden Blick auf meinem Hinterkopf. Wer versucht in meinen Kopf reinzugucken? Müsste mich nur umdrehen, um es herauszufinden, aber betrachte für paar Sekunden den hinteren Parkplatz vom Krankenhaus. In der nächsten Sekunde höre ich ein Klatschen und kann mir schon ableiten, dass sich Hakan und Pamuk sich die Hand eingeschlagen haben, weil Hakan genauso sein Brot isst, wie Pamuk. Sie führen ihr Gespräch mit den anderen fort, nur beteiligt sich Bolat kein bisschen. Seine Stimme habe ich kein einziges Mal gehört heute. Nicht mal ein Wort, ein Husten oder ein Räuspern hat seinen Mund verlassen. Oh man. Mein Bruder ist verstummt. Genauso wie ich. Wie soll ich dann bitte mit ihm ein vernünftiges Gespräch führen? Ich ... ich weiß es nicht. Auf jeden Fall sollte ich mich langsam aufraffen. Streiche mir eine Strähne hinters Ohr, bevor ich mich ausatmend umdrehe und geradewegs in die grauen Augen von Pamuk blicke. Fühle nicht die Lust mit ihr ein Blickduell zu starten, weswegen ich auch von ihr weggucke und mich auf einen der freien Stühle setze.

Meine Augen wandern zu Bolat, der stumm auf dem Bett sitzt und gedankenverloren die Verbände um seine Handgelenke betrachtet. An was er wohl denkt? Bereut er seine Tat oder bereut er es nicht fester mit der Klinge seine Haut aufgeschnitten zu haben? Ich kann nichts von seinem Gesichtsausdruck oder von seiner Körperhaltung ablesen. Oder ich habe es ... verlernt. Ich habe ihn seit Monaten nicht mehr richtig angeschaut oder analysiert. Die Möglichkeit besteht. Seine Locken sind verwuschelt und sind nicht definiert, was man aber in der jetzigen Situation auch nicht erwarten würde. Mein Mundwinkel will traurig hoch zucken, aber ich lasse ihn gesenkt, als ich die kleinen Stoppeln an seiner Wange und den Ziegenbart unter seiner Nase sehe. Schon so groß geworden. Atme leise aus. Ich realisiere erst jetzt so wirklich, dass sich der Körperbau von meinem kleinen Bruder verändert hat. Emirhan hat mit ihm zu viel trainiert. Das kann doch nicht sein. Er ist doch nur fast 17! Wann ist er denn bitte so breit geworden? Oh Gott. Sicherheitshalber schaue ich mir kurz den Rücken von Hakan an, um mir die Frage zu beantworten, ob Bolat muskulöser als Hakan ist. Schließe mit einer kleinen Erleichterung die Augen, bevor ich sie wieder öffne. Noch ist es nicht so weit, aber wenn er wirklich so weiter macht, dann wird dieser Zeitpunkt auch noch kommen. Irgendwas in mir will, dass er so bleiben soll wie er ist. Körperlich.

,,Ey wusstet ihr, dass Efsane internationale Boxkämpferin wird?" höre ich Daran grinsend fragen und in der nächsten Sekunde schauen mich zu viele Augenpaare. Echt jetzt, Daran? ,,Lüg nicht." sagt Hakan unglaubwürdig und seine Augen schauen mich fragend an. ,,Ich lüge nicht. Deine Schwester wird groß rauskommen." Verdrehe meine Augen und blicke zur Seite. ,,Wirklich, Abla?" fragt Hakan und schaut mich mit großen Augen an. Würde eigentlich nicht darauf antworten, aber Bolats neugieriger Blick liegt auch auf mir. Er will auch wissen, ob das Gesagte von Daran der Wahrheit entspricht. Ich sollte etwas sagen. Ich habe mir vorgenommen mehr zu reden, nur für Bolat. Jetzt sind aber zu viele Menschen im Raum, die auch mithören werden. Als distanzierte Person fällt es mir gerade schwer eine Antwort zu geben. ,,Steht noch nicht fest." sage ich nur und schaue kurz zu Hakan, der mich glücklich anlächelt. Fast hätte ich noch den Blick von Bolat erwidert, aber er schaut schneller als ich weg. Spüre den Blick von Halil auf mir, der neben Bolat sitzt und einen Arm um seine Schulter gelegt hat. Erwidere den Blick und gucke geradewegs in seine dunklen Augen, die mich nachdenklich angucken. Und diesen Junge habe ich groß gezogen, hm? Er hat mich als eine Hure betitelt. Spüre den irgendwas nach ihm zu werfen. Kleines Kind. Schaue weg, bevor ich eine falsche Bewegung mache.

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