o5. Der Rabe

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Als Harry sich am Abend auf den Weg zu Louis' Zimmer machte, schlug ihm das Herz bis zum Hals.

Gott sei Dank befand sich dieses direkt neben seinem eigenen, sodass er gar nicht dazu kam, großartig darüber nachzudenken.

Mit zitternder Hand klopfte Harry gegen die hölzerne Tür.

Es dauerte keine fünf Sekunden, bis Louis ihm öffnete.

Wieder stieg ihm dieser beruhigende Geruch entgegen, der ihn ständig zu umgeben schien.

Sandelholz.

Vanille.

Irgendwie schien der Duft ihm seltsam vertraut zu sein.

„Schön, dass du da bist", lächelte Louis und trat zur Seite, um ihn reinzulassen.

Harry staunte nicht schlecht: Das Zimmer war übersät von Bücherstapeln. Sie befanden sich überall: auf dem Tisch, auf dem Boden, auf dem Fensterbrett – sogar auf dem Bett.

An der Wand und an den Fenstern klebten unzählige Notizzettel. An manchen Stellen konnte Harry kaum noch die kahle Wand dahinter erkennen.

Er schien in der Analyse verschiedenster Werke nicht nur seinen Beruf, sondern auch seine Berufung gefunden zu haben.

Die beiden Männer ließen sich an dem kleinen Tisch nieder, der auf der linken Seite am Fenster stand.

Louis schenkte beiden ein Glas Wein ein, und Harry konnte sich schon jetzt ausmalen, wie dieser Abend enden würde.

Er musste sich zusammenreißen.

Immerhin konnte er sich nicht schon wieder so blamieren wie letzte Nacht.

Louis allerdings schien sehr viel Wein zu trinken. Im Gegensatz zu ihm war er überhaupt nicht betrunken gewesen.

Andererseits war es auch nicht sonderlich schwierig, Harry unter den Tisch zu trinken. Er hatte noch nie sonderlich viel vertragen, ganz egal, wie viel er während des Studiums auch trainiert hatte.

Die Male, die Niall ihn beinahe nach Hause hatte tragen müssen, waren unzählbar.

„Sie haben ganz schön viele Bücher mitgebracht", bemerkte Harry also, während er seinen ersten Schluck nahm.

Louis grinste. „Die meisten davon lasse ich bis zu meinem nächsten Kurs hier."

Harry nickte und blickte auf die verschiedenen Notizzettel. Sie hatten alle möglichen Größen, und auf den meisten von ihnen standen Zitate unterschiedlichster Bücher.

Louis hatte eine wunderschöne, leicht geschwungene Handschrift. Makellos.

Harry hätte gerne mehr von den kleinen Zettelchen gelesen, als Louis ihn aus seinen Gedanken riss: „Sie sehen ein bisschen müde aus."

Ein leises Lachen entwich Harry's Brust. „Ich bin müde", antwortete er. „Das war ziemlich viel Input heute."

Louis grinste.

Wie immer ließ er sich nicht in die Karten schauen.

„Welchen Zettel lesen Sie gerade?"

Harry zuckte zusammen.

Er fühlte sich so ertappt, dass ihm plötzlich die Röte ins Gesicht stieg.

So unaufgeregt wie möglich räusperte er sich. „Ein Traum in einem Traum", gab er zur Antwort. „Von Edgar Allan Poe."

Louis lächelte zufrieden, weil er Harry in seiner Neugier erwischt hatte. „Gute Wahl."

Harry schluckte, dann zwang auch er sich zu einem sanften Lächeln. „Ich glaube, mich haben noch nie Gedichte so sehr fasziniert, wie die seinen."

The WriterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt