„Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte."
- Ernest Hemingway
Auch der letzte Vortrag des Seminars begann mit einem Zitat.
Harry lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während Louis über die Flucht aus der Realität während des Lesens und Schreibens eines Buches redete.
„Es gibt viele Bücher, die unter Künstlernamen oder komplett anonym veröffentlicht wurden", begann er. „Das Verbergen der direkten Identität kann verschiedene Gründe haben. Welche fallen Ihnen dazu ein?"
Harry presste die Lippen zusammen.
Augenblicklich hatte er die Handlung des Buches Ephemeral vor Augen.
Die Tragik verschiedener Tagebücher aus einer längst vergangenen Zeit, die auf seltsame und doch so einfache Art und Weise Einzug in die Realität der Gegenwart fanden.
Er konnte kaum verstehen, weshalb der Autor sich unter dem Deckmantel der Anonymität versteckte. Es gab nun wirklich nichts an diesem Buch, wofür er sich hätte schämen müssen.
„Naja, ich kann gut verstehen, dass man seine Privatsphäre schützen möchte", warf Niall schulterzuckend ein. „Nicht jeder möchte seine kreativen Gedanken seinem direkten Umfeld preisgeben."
„Es muss ja nicht immer ein Versteckspiel dahinterstecken", antwortete Lucy, eine junge Geschichtslehrerin aus der hinteren Reihe. „Vielleicht geht es auch viel mehr um künstlerischen Ausdruck, ein Statement, Einprägsamkeit. Wissen Sie, was ich meine?"
„Oder ganz einfach Markenbildung", fügte Aria, ihre Sitznachbarin, hinzu. „Unbekannte oder verschleierte Dinge sind interessant und üben einen gewissen Reiz aus."
Louis nickte zufrieden und warf einen kurzen Blick in die Runde. „Alles ausgezeichnete Ideen", kommentierte er. „Aber was sagen Sie zu der Idee, seinen wahren Namen zu verbergen, um seine echte Identität zu schützen? Weil man nicht auf den Titel seines Buches oder dessen Erfolg reduziert werden möchte?"
Louis' Worte brachten ihn zum Nachdenken.
Was hatte es wohl mit seiner Themenauswahl auf sich?
Er klang beinahe, als spräche er aus Erfahrung. Als kenne er das Gefühl ganz genau.
„Verständlich", warf ein Teilnehmer hinter ihm ein, dessen Name Harry noch nicht einmal kannte, so unwichtig war er ihm in den letzten Tagen erschienen. „Nicht alle Menschen haben die Gabe, den Künstler hinter dem Kunstwerk zu sehen."
Harry drehte sich zu ihm um und zog fragend die Augenbrauen zusammen. „Aber ist es nicht genau das, was Kunst ausmacht?", hakte er nach. „Dass der Künstler Eins ist mit seinem Kunstwerk?"
Louis lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme miteinander.
Seine Lippen formten ein Grinsen, das keinen Zweifel daran ließ, dass ihm Harry's Antwort gefiel.
„Und genau das ist der Punkt", räumte er ein. „Eine solche Information in den falschen Händen kann eine Menge Schaden anrichten."
„Schaden?", wiederholte der Typ hinter Harry und Niall. „Welchen Schaden?"
„Was ich damit sagen will ist", fuhr Louis unbeirrt fort. „Es sollte jedem Autor selbst freistehen, wann und zu welchen Bedingungen er seine Werke veröffentlichen möchte – und das sollte auch respektiert werden."
Nachdem der Vortrag am späten Nachmittag endete, hatte Harry seine Finger fast gänzlich in den Ärmeln seines schwarzen Pullovers versteckt.
War es denn wirklich zu viel verlangt, die Bude zu heizen, wenn schon eine Horde Lehrer dazu verdammt war, eine Woche in dieser langweiligen Einöde zu verbringen?
Entnervt trottete der junge Mann in den Aufenthaltsraum und stellte eine Tasse unter den Kaffeeautomaten.
Irgendwie fühlte er sich seltsam. Nicht auf eine negative Art, aber irgendwie auch nicht auf eine positive – er fühlte sich einfach anders als sonst.
Noch ehe er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, spürte er eine sanfte Berührung auf seinem Arm. „Harry?"
Louis lächelte, als Harry sich zu ihm umdrehte.
Harry lächelte zurück, ohne es selbst wirklich zu bemerken.
Louis' sanfter Duft kitzelte seine Nase, während die Schmetterlinge in seinem Bauch sich schlagartig zu vermehren schienen.
Louis spürte, wie seine Wangen rot wurden. „Ich würde dir heute Abend gerne etwas zeigen."
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So, jetzt wird's langsam ernst😂
Wie hat euch das Kapitel gefallen?♥️All the love,
Helena xx

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The Writer
FanfictionIn seinem Beruf als Lehrer hat Harry bereits einige Bücher gelesen, die ihn berührt haben. Trotz allem hat ihn nie ein Werk auf die gleiche Art und Weise gefesselt, wie ein Roman mit dem Titel 'Ephemeral' - doch der Autor des Buches bleibt ein Rätse...