30. Nie zu spät für die Wahrheit

348 83 30
                                    

Einige Tage war für Louis einer der Abende, die mittlerweile selten geworden waren.

Er saß mit Liam auf seinem Sofa, trank ein Glas Wein und streichelte Celeste, die schnurrend auf seinem Schoß saß.

Liam hatte in letzter Zeit viele Langstreckenflüge abarbeiten müssen, sodass sich die beiden Männer seit einigen Wochen nicht mehr gesehen hatten.

Schließlich beschloss er, sich seinem einzigen und besten Freund anzuvertrauen.

„Ich weiß einfach nicht, ob und wie ich es ihm sagen soll", seufzte er und nippte an seinem Glas.

Liam presste nachdenklich die Lippen zusammen und lernte an diesem Abend eine ganz andere Seite seines langjährigen Freundes kennen.

Louis war sehr nachdenklich.

Das überraschte ihn, zum einen, weil Louis eigentlich nicht lange über Probleme nachgrübelte, sondern versuchte, sie zu lösen – und zum anderen, weil er ihn so gar nicht kannte.

Er war die meiste Zeit über sehr gefasst und ließ sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen.

Diese Sache allerdings schien ihn sehr zu belasten.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich finde, du solltest ihm die Wahrheit sagen", antwortete Liam und erinnerte sich an einen Abend vor einigen Wochen, als Louis die ersten Bedenken bezüglich seiner Anonymität geäußert hatte.

„Ist es dafür nicht längst zu spät?", grübelte Louis.

Liam schüttelte irritiert den Kopf. „Es ist nie zu spät für die Wahrheit."

Louis blickte einen Moment auf Celeste und die Menge an Haaren, die sie auf seinem Hemd hinterlassen hatte.

Er unterdrückte den Impuls, sofort zur Fusselbürste zu greifen.

Schließlich seufzte er und sah Liam an. „Was ist eigentlich die Wahrheit."

Sein bester Freund verdrehte die Augen. „Dass du dich von deinem bisherigen Umfeld lösen wolltest und deshalb deinen Namen nicht auf das Buch drucken hast lassen", wiederholte er, was Louis ihm damals erzählt hatte. „Als das Buch dann so erfolgreich wurde, wolltest du nicht, dass die Menschen dich darauf reduzieren."

Louis nickte und dachte einen Moment lang darüber nach.

Er bereute seine Entscheidung nicht, hatte er noch nie – warum auch?

Er hatte keine Lust, sich gegenüber Zeitungen und Moderatoren zu äußern und mit Leserbriefen überhäuft zu werden.

Er wollte einfach sein unscheinbares Leben weiterleben, so wie er es bisher getan hatte.

„Er behandelt das Buch gerade mit einer Schulklasse", erzählte Louis, und Liam konnte in seiner Stimme hören, dass er nicht so recht wusste, wie er damit umgehen sollte.

„Dann hilf ihm doch dabei", schlug der Pilot vor. „Vielleicht ist auch dein Vater etwas milder gestimmt, wenn Harry dadurch gute Ergebnisse erzielen kann."

Louis schnaubte verächtlich auf. „Das glaubst du doch selbst nicht."

Liam wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen.

Wie konnte man nur so stur sein?

„Selbst wenn dein Vater weiterhin streiken sollte, wärst du für ihn eine große Hilfe."

Louis schüttelte den Kopf. „Was, wenn er dann wütend auf mich ist?"

Liam konnte sich das nicht vorstellen. „Wie gesagt, du wärst eine große Hilfe für ihn", sagte er. „Wieso sollte er da sauer auf dich sein?"

„Weil ich ihm die Wahrheit so lange nicht habe sagen können, obwohl ich sie kannte", gab Louis zur Antwort.

„Naja, so lange kanntet ihr euch da noch nicht", gab Liam zu bedenken. „Niemand rückt sofort mit all seinen Geheimnissen heraus, sobald man jemanden kennenlernt."

Einen Moment lang dachte Louis darüber nach und kam schließlich zu dem Schluss, dass Liam Recht hatte.

Er musste Harry die Wahrheit sagen.

Es stellte sich nur die Frage, wie er das anstellen sollte.

Gab es für solche Dinge überhaupt so etwas wie einen richtigen Moment?

Früher oder später würde er Harry allerdings die Wahrheit sagen müssen, wenn er seine Zukunft mit ihm verbringen wollte.

Und es gab nichts, was er mehr wollte als das.

Obwohl ihm nicht wohl dabei war, entschied er sich schließlich dazu, Harry reinen Wein einzuschenken – im wahrsten Sinne des Wortes.

Hary stand am nächsten Morgen vor seiner Schulklasse und war gerade dabei, Charakterisierungen für die handelnden Personen zu erstellen.

Mittlerweile hatten alle das Buch gelesen.

Einige Schüler fanden es natürlich langweilig, in der Vergangenheit vor dem zweiten Weltkrieg herumzukramen, andere wiederum zeigten großes Interesse an dem Roman.

„Wenn es die Briefe wirklich gegeben hat, muss es auch das Paar gegeben, das sie geschrieben hat", erläuterte Evelyn und trug somit ausnahmsweise etwas Sinnvolles zum Unterricht bei.

Entweder hatte sie endlich verstanden, dass Harry sich nicht außerhalb des Schulgebäudes mit ihr verabreden wollte, oder sie glaubte, ihn nun mit halbwegs vernünftigen Antworten beeindrucken zu können.

„Das wäre ein Fall für das Stadtarchiv", antwortete Harry und schrieb den Stichpunkt an die Tafel.

„Wer sagt, dass das Paar schon tot ist?", gab Helen zu bedenken.

Sie war Klassenbeste und es gab kaum ein Fach, das sie nicht beherrschte. Harry zog die Augenbrauen nach oben.

„Wie meinst du das?"

„Naja", antwortete sie, „Wenn das Paar 1939 etwa achtzehn Jahre alt war, könnten sie mit ein bisschen Glück noch leben."
___________
Hallo meine Lieben.🤍
Was sagt ihr zu den Gespräch zwischen den beiden?🤍

All the love,
Helena xx

The WriterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt