Als Harry am nächsten Tag mit Niall beim Frühstück saß, hielt er sich pausenlos den dröhnenden Kopf.
Er konnte noch nicht einmal sagen, ob die Kopfschmerzen von den beiden Flaschen Rotwein kamen, die er mit Louis geleert hatte – oder von der immer präsenten Frage in seinem Kopf, ob dieser Kuss, der eigentlich gar kein Kuss gewesen war, einer hätte sein sollen oder die Berührung ihrer Lippen ganz einfach ein blöder Zufall gewesen war.
Er konnte an nichts anderes mehr denken, als an den gestrigen Abend.
Auch Niall bemerkte, dass sein Freund nicht ganz bei der Sache war, als er ihm von seinem Telefonat mit Mary am vergangenen Abend erzählte.
„Harry?", fragte er und schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern. „Hörst du mir überhaupt zu?"
Ehe er überhaupt realisieren konnte, was passiert war, zuckte er erschrocken zusammen. „Was?", gab er verwirrt von sich, „Nein ... Tut mir leid..."
Besorgt zog Niall die Augenbrauen zusammen. „Geht es dir nicht gut?"
„Doch, keine Sorge", antwortete Harry. „Ich habe nur so wahnsinnige Kopfschmerzen..."
Ein schadenfrohes Grinsen schlich sich auf Niall's Lippen. „Dann hättest du gestern wohl nicht so viel bechern sollen, mein Freund."
Entnervt verdrehte Harry die Augen. „Halt die Klappe."
„Wie war's eigentlich?", hakte Niall nach, „Hattet ihr einen schönen Abend?"
Als Harry bemerkte, wie sein bester Freund süffisant mit den Augenbrauen wippte, rollte er erneut mit den Augen. „Jetzt hör auf damit", zischte er. „Es ist nicht so, wie du denkst."
Niall verschränkte die Arme und lehnte sich genüsslich in seinem Stuhl zurück, ehe er einen Schluck aus seiner Kaffeetasse nahm. „Wie ist es denn dann?"
„Ich weiß es nicht", gestand Harry ehrlicherweise. „Ich meine, wir sind noch nicht einmal seit drei Tagen hier."
Niall zuckte die Schultern. „Das reicht doch."
Entschieden schüttelte Harry den Kopf und ignorierte dabei das lästige Kribbeln in seiner Magengegend. „Das geht nicht", beharrte er. „Außerdem steigen nicht alle Menschen, die sich gut miteinander verstehen, hüpfen gleich miteinander ins Bett."
Nun war Niall derjenige, der die Augen verdrehte. „Ich hab auch nicht gesagt, dass du gleich mit ihm ins Bett hüpfen sollst."
Harry nahm einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
Dieser bekämpfte seine Müdigkeit zwar recht zuverlässig, verstärkte dafür allerdings seine Übelkeit.
Er hatte schon lange keinen Kater mehr gehabt – was vermutlich daran lag, dass er eigentlich ziemlich selten Alkohol trank.
„Vielleicht fragst du ihn einfach, ob ihr euch auch außerhalb des Kurses sehen könnt", schlug Niall vor. „Er wohnt immerhin in London. So weit entfernt kann er also nicht sein."
Harry tippte sich an die Stirn. „Auf gar keinen Fall."
„Warum denn nicht?", wollte Niall wissen. „Ihr scheint die gleichen Interessen zu haben. Und wenn du mich fragst, hat der Typ noch nie in seinem Leben eine nackte Frau gesehen."
Empört lehnte Harry sich weiter zu ihm, damit niemand ihn hören konnte. „Jetzt hör schon auf!"
Niall kicherte. „Ich denke nicht daran."
Als schließlich alle ihren Platz im Seminarraum eingenommen hatten, hatte Niall seinen Freund bereits mit zwei Schmerztabletten und einem Liter Wasser vollgepumpt.
Obwohl es ihm noch immer nicht sonderlich gut ging, war Harry zumindest die Kopfschmerzen los.
Er konnte Louis riechen, bevor er ihn überhaupt hörte.
Der Duft nach Sandelholz und Vanille.
Er schien den ganzen Raum zu erfüllen.
Wie gewohnt erschien Louis in schwarzer Jeans und Hemd – dieses Mal allerdings war es kurzärmlig und gab einen uneingeschränkten Blick auf die Tattoos an seinen Unterarmen frei.
Harry versuchte, die einzelnen Motive zu entschlüsseln, während Louis die Seminarteilnehmer begrüßte und die heutige Sitzung eröffnete.
Sofort stieg Harry der große Vogel auf dem rechten Unterarm ins Auge.
Er war sehr detailreich gestochen worden und sah kein bisschen verblichen aus.
Dann riss Louis' Stimme ihn aus seinen Gedanken: „Wissen Sie, aus welchem bekannten Buch dieses Zitat stammt?"
Harry hob seinen Blick und bemerkte, dass der Beamer einen Satz in großen Druckbuchstaben an die Wand warf.
„Wo Worte selten, da haben sie Gewicht."
Harry seufzte. „Shakespeare, Richard II.", antwortete er, bevor er sich selbst daran hindern und sich auf seine Höflichkeit besinnen konnte.
Louis lächelte. „Ganz genau", stimmte er zu. „Haben Sie eine Idee, was ich Ihnen mit diesem Satz sagen möchte?"
Es entstand eine kleine Diskussion zum Thema Wortwahl und Textstruktur, während der Louis sich wieder mit verschränkten Armen gegen das vorderste Pult lehnte.
„Worte haben viel Kraft", sagte er also. „Sie können verletzen, heilen, verängstigen, trösten – deshalb ist es so wichtig, seine Worte sorgfältig zu wählen."
Ein zustimmendes Nicken ging durch die Reihen.
„Worte können eine sehr aufbauende Wirkung haben", fuhr er fort, „Aber genauso gut können sie jemanden niederschmettern. Das ist nicht nur beim Lesen und Schreiben von Texten wichtig, sondern hat auch große Bedeutung im täglichen Umgang mit Ihren Schülern."
Harry war fasziniert von Louis' Art und Weise, zu unterrichten.
Er hätte ihm stundenlang zuhören können und verlor sich immer wieder in seinen Worten.
Harry bewunderte den Tiefgang, den sie hatten und die Verknüpfungen, die er zwischen den Dingen herstellte.
Irgendetwas an dieser Fortbildung war anders.
Er langweilte sich keine einzige Sekunde lang und die Zeit schien wie im Flug zu vergehen.
Louis' Stimme klang wie Honig, so weich und süßlich, dass Harry gar nicht wollte, dass er überhaupt aufhörte, zu reden.
„Worte sind kostbar", schloss Louis die Sitzung des Vormittags. „Manchmal ist weniger mehr – aber man muss die richtigen Worte finden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und sehe Sie am Nachmittag wieder."
Harry schrieb noch die letzten beiden Stichpunkte, die ihm im Kopf geblieben war, auf seine Notizen nieder.
Der Raum um ihn hatte sich bereits fast vollständig geleert, weshalb er sich entschloss, die Gelegenheit zu nutzen.
Er stand auf und ging einige Schritte auf Louis zu. „Shakespeare also, hm?"
„Ein wunderbarer Schriftsteller", entgegnete Louis und klappte lächelnd seinen Laptop zu. „Einer der Besten, die es gibt."
Harry erwiderte das Lächeln und nickte zustimmend. „Allerdings. Es ist ziemlich interessant, wie er die englische Sprache beeinflusst hat."
Wissend grinste Louis, und auf seinem Gesicht zeichnete sich die Frage ab, wie dieser Mann, den er noch nicht einmal seit drei Tagen kannte, so viel mit ihm gemeinsam haben konnte.
„Warum kommen Sie heute Abend nicht auf eine Flasche Rotwein zu mir?"
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Einen schönen Donnerstagabend meine Freunde🫶🤍
Ich hab dieses Kapitel zum Anlass genommen, seit Langem mal wieder Romeo und Julia zu lesen.
Hört sich jetzt an als wär ich voll romantisch😂😂
... Lest ihr Shakespeare oder bin ich der einzige Streber der seit dem Studium drauf hängengeblieben ist?😂😅Was sagt ihr zu dem Kapitel?🤍
All the love,
Helena xx
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The Writer
FanfictionIn seinem Beruf als Lehrer hat Harry bereits einige Bücher gelesen, die ihn berührt haben. Trotz allem hat ihn nie ein Werk auf die gleiche Art und Weise gefesselt, wie ein Roman mit dem Titel 'Ephemeral' - doch der Autor des Buches bleibt ein Rätse...