11. Denkst du etwa, ich lasse dich frieren?

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Die beiden Männer hatten sich für acht Uhr verabredet.

Jetzt, da die meisten anderen Kursteilnehmer in ihre Zimmer gegangen waren, konnten sie ungestört durch die Gänge laufen, während ihre Hände sich immer wieder zufällig berührten.

Louis führte Harry die steinerne Treppe des Hauptgebäudes bis ganz nach oben, ehe er einen großen Schlüssel aus seiner Tasche zog.

Harry schlug das Herz bis zum Hals, und er konnte es kaum erwarten zu sehen, was sich hinter dieser Tür befand.

Der Geruch nach Sandelholz und Vanille war an diesem Tag stärker als sonst. Am liebsten hätte er sich ganz nah an ihn gedrückt, um den Duft noch intensiver wahrnehmen zu können.

Der Schlüssel drehte sich also im Schloss und Louis öffnete die schwere Tür.

Gespannt lugte Harry in den Raum dahinter.

Mit großen Augen bestaunte er die unzähligen Bücherregale, die in ein schummriges Licht getaucht waren, das vom Kamin herrührte, dessen Feuer leise knisterte.

In der Bibliothek war es viel wärmer als in den anderen Räumen. Zum ersten Mal seit Tagen konnte Harry seine Muskeln entspannen, ohne direkt wieder zu frieren zu beginnen.

Der gesamte Raum roch nach altem Papier, nach Büchern, die schon eine halbe Ewigkeit ihr zu Hause hier gefunden hatten.

Es war still.

Ganz still.

Eine Stille, wie man sie nur in einer Bibliothek fand.

Ein Ort, wo das hektische Leben des Alltags draußen vor der Tür wartete, während man sich in tausenden von Büchern verlieren konnte.

Vorsichtig griff Louis nach seiner Hand, ehe er ihn einige Schritte mit sich zog.

Zwischen den Regalen befand sich eine kleine Wendeltreppe, die eine Etage weiter nach oben führte.

Die beiden Männer mussten nacheinander nach oben steigen, so schmal war sie.

Oben angekommen konnte Harry seine eigenen Schritte auf dem dicken Teppichboden hören.

Ein Innenbalkon aus altem Holz gab den Blick auf das untere Stockwerk frei, während Louis in einem Regal nach einem ganz bestimmten Buch zu suchen schien.

Harry legte den Kopf schief und beobachtete ihn dabei.

Wie er mit seinen Fingern sanft über die Buchrücken fuhr und mit den blauen Augen deren Titel studierte.

Diese Ruhe, die von ihm ausging, hätte Harry auch gerne gehabt – das hätte ihm mit Sicherheit das ein oder andere Problem erspart.

Dann schien Louis das gesuchte Buch endlich gefunden zu haben.

Es schien ein sehr altes Exemplar zu sein, denn der Einband war bereits ausgeblichen und die Ecken sahen ziemlich mitgenommen aus.

Dann hielt Harry einen Moment lang die Luft an.

The Waste Land?", fragte er ungläubig. „Die Erstausgabe?"

Louis nickte und gab ihm das Buch in die Hand.

Es fühlte sich anders an, als die Bücher, die heutzutage gedruckt wurden.

Dieses Buch war gute Einhundert Jahre alt.

Die Seiten ließen sich leicht umblättern und fassten sich dicker an, als die, die Harry sonst in den Händen hielt.

„Diese Ausgaben werden für mehr als dreißigtausend Pfund gehandelt", sagte Harry fasziniert und ließ vorsichtig seine Augen über die verblichenen Zeilen gleiten.

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