Flucht

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(Triggerwarnung)

Wir mieden den Blickkontakt mit Schneewittchen, während wir zeitgleich zu den Waschräumen marschierten. Höflich, wie wir nun mal waren, überließen wir ihr natürlich den Vortritt. Schließlich sind wir gut erzogen und und würden eine Hierarchie stets anerkennen.
Ja... nicht wirklich...
Anastasia warf uns einen arroganten und höhnischen Blick zu. Nichts erinnerte mehr an das süße kleine, unschuldige Mädchen, dass wir vor einem Tag erst kennen gelernt hatten. Verdammt, die Kurze war echt eine beeindruckende Schauspielerin.
„Guten Morgen, Anastasia," zwitscherte Cami und schenkte der kleinen Verräterin ein freundliches Lächeln.
Das schwarzhaarige Gift lächelte hinterhältig zurück und flötete: „Habt ihr die Neuigkeiten schon gehört? Ihr dürft heute bereits umziehen... Der Arzt sagte, dass bei Sophie die fruchtbaren Tage kurz bevorstehen. Und der gute Pete wird derjenige sein, der sie zum ersten Mal schwängern wird!"
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie eine mir bekannte Frauengestalt aus der Dusche trat... Vollständig bekleidet und mit einem wachsamen Ausdruck im Gesicht.
Oh, gut... Linda war bereit zum Ausbruch!
Na dann, warum sollten wir hier noch weiter Zeit verschwenden?
Ich nickte meiner Freundin kurz zu und  Cami schraubte ihr Lächeln so schnell ab, dass einem ganz schwindlig werden konnte.
„Ach, halt's Maul, du winzige Mistratte von einer Verräterin," zischte ich zurück, während sich die Augen der Prinzessin in Schock ob meiner Dreistigkeit ihr gegenüber weiteten.
„Wie bitte? Soll ich vielleicht meinen Vater holen? Der wird schon dafür sorgen, dass..."
Weiter kam sie nicht, denn auf einmal ruckte ihr Kopf hart zu Seite, nachdem ihre Wange Bekanntschaft mit Camilias Handfläche geschlossen hatte.
Fassungslos hob Anastasia zitternd einer Hand an den brennenden Abdruck in ihrem Gesicht und starrte meine Besti voller Entsetzen an.
Die lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Dein Daddy wird dir auch nicht weiterhelfen können, du erbärmliches Miststück! In dieser Welt sollten Frauen eigentlich loyal zueinander stehen, aber du bist die schlimmste Art von Mensch! Du hast deine eigenen Geschlechtsgenossen verraten, damit sie geschlagen, vergewaltigt und zwangsgeschwängert werden! Deswegen haben Soph und ich beschlossen dir ein wenig von der richtigen Welt zu zeigen. Oder anders gesagt: wir nehmen dich mit. Und falls dein lieber guter Daddy versucht, uns aufzuhalten, rate mal, wessen Kehle dran glauben muss?"

Der Gesichtsausdruck des Mädchens war so, als hätte man ihr gerade gesagt, dass der Himmel eigentlich die Erde wäre und selbige aus Zuckerwatte bestand.
Ich packte ihre schwarzen Locken und drehte sie so zu mir um
„Ach, nur falls du es noch nicht selber herausgefunden hast: von uns beiden ist Cami diejenige, vor der man sich in acht nehmen muss! Dieses kleine, überzeugende Schauspiel einer Heulsuse... das war nämlich genau das: ein Schauspiel! Wir sind ja auch nicht von gestern, Kindchen... Wir wussten, dass du uns ausspionierst und jedes einzelne Wort, das du deinem verschissenen Vater weiter getratscht hast, war gelogen."
Ich sah die Erkenntnis in ihren Augen. Das Wissen, dass sie ein wirklich, wirklich dämlichen Fehler gemacht hatte. Sie hatte uns unterschätzt. Ihr letzter Fehler, denn jetzt waren wir am Zug!
Cam wandte sich der jungen Frau zu, die langsam und zögernd näher gekommen war.
„Lass mich raten, du bist Linda?"
Sie nickte nur stumm und sah Anastasia mit kaum verhohlenen Hass an.
Dieser Blick brachte mich zu der Annahme, dass der Schneewittchen Verschnitt auch hier ganze Arbeit geleistet haben musste. Ich griff in den Kulturbeutel und zog die geschärfte Holzklinge hervor und presste sie unter Anastasias Kinn.
Wir hatten das Holz so scharf gefeilt, dass es mühelos in die Haut der Kleinen schnitt und ein Bluttropfen über den blassen Hals lief.
„Ups... na sowas... Da hab ich dich doch glatt geschnitten. Na, zumindest jetzt sollte dir klar sein, dass wir es ernst meinen. Ich sag dir nun, wie's abläuft. Du kommst brav mit und mit brav meine ich da lautlos, ohne rumzuschreien zu winken oder irgendwie sonst auf uns aufmerksam zu machen. Wenn wir dann sicher hier raus sind, lassen wir dich frei und du kannst zurück in die wartenden Arme deines Daddys. Sollte uns aber irgendwer aufhalten... nun ja... Du kannst dir ja sicher vorstellen, was dann mit deinem Hals passiert, oder?"
Völlig verschüchtert nickte Anastasia kaum wahrnehmbar und Linda zischte:
„Ihr wollt sie wirklich freilassen? Sie verdient Schlimmeres!"
Cam tätschelte ihr beruhigend die Schulter und fragte: „Wie schwanger bist du? Kannst du rennen?"
Ohne Zögern nickte die Frau, fixierte jedoch das schwarzhaarige Mädchen nach wie vor mit einem durch und durch bösen Blick. Meine Freundin beugte sich zu Linda und flüsterte ihr etwas ins Ohr, deutete dann auf die Tür und die beiden gingen, vorsichtig sich umsehend nach draußen.
„Los geht's, Miststück. Schwing die Hufe."
Ich wechselte die Position meiner Hand aus ihren Haaren in ihrem Nacken und schob sie grob vor mir her, meiner Freundin folgend.

Das VirusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt