Container drei

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„Hier... du musst etwas trinken.."
Eine fremde Stimme riss mich aus meiner Benommenheit und ich richtete meinen Fokus auf das Mädchen, das vor mir hockte. Sie war niedlich... winzig... sehr puppenhaft, mit riesigen grünen Augen, schwarzen schulterlangen Locken und einer Porzellanhaut.
Und sie war höchstens dreizehn Jahre alt...
Verwirrt sah ich mich um.
„Wo zum Geier bin ich hier?" murmelte ich und fuhr mir mit beiden Händen erst übers Gesicht und dann durch die Haare.
Die kleine Maus lächelte mich unsicher an und hielt mir ein Glas Wasser hin.
„Du bist in Container drei... und ich bin Anastasia... wie heißt du? Wo kommst du her?"
Neugierig sah mich der süße Spatz an und setzte sich mit unterschlagenen Beinen vor mich hin.
Ich zögerte, dann schüttelte ich meinen Argwohn ab und nahm mit einem dankbaren Lächeln das Wasser entgegen.
Durstig leerte ich das Glas und sah mich dann langsam um.
Tatsächlich befanden wir uns in einem echten Container... so einem, in dem früher Waren über den Seeweg verschifft wurden. Nur, dass in die Decke riesige Oberlichter hineingefräst worden waren, so dass meine Klaustrophobie höchstens in der Nacht noch Chancen hatte.
An den Wänden der hinteren Hälfte entlang standen in militärischer Präzision acht Feldbetten aufgereiht und im vorderen Bereich waren Sitzmöbel und ein Essplatz eingerichtet worden. Regale mit Büchern füllten die Wand hinter den Sofas... alles in allem war das nicht der schlechteste Ort, an dem Cami und ich in den letzten Jahren gewesen waren...
Cami...
Scheiße!
CAMI!!!
Hektisch drehte ich meinen Kopf und als ich ihre vertraute Gestalt auf dem ersten Feldbett sah, sprang ich erleichtert auf und stürzte zu ihr hinüber.
„Cam? Süße, kannst du mich hören? Camelia! Wach auf!"
„Nenn mich ja nie wieder Camelia!" lallte meine Besti undeutlich und öffnete mühsam ihre Augen.
Orientierungslos wanderte ihr Blick durch unser Gefängnis und rastete dann auf mir ein.
„Soph? Bist das wirklich du? Scheiße... Sophie!!!"
Mit einem Aufschluchzen schlang Cami ihre Arme um mich und heulte los wie eine Luftschutzsirene.
Und so verbrachte ich die nächsten zehn Minuten damit, meine Freundin zu trösten. Schließlich verstummten ihre Schluchzer und sie sah mich aus verquollenen Augen an: „Wie kommst du hierher? Oh, nein... sie haben dich auch gefangen oder? Du bist ihren Spuren gefolgt?! Ach, Sophie... Sie werden furchtbare Dinge mit uns anstellen! Wie damals in Arkansas... Wir werden nie mehr sicher sein!!!"
Ihre Blicke wanderten scheinbar ziellos umher, während ihre Hände beschwörend über meine Oberarme strichen.
Aufheulend vergrub meine Besti ihr Gesicht wieder in meinem Schoß und klammerte sich an mich, als gäbe es kein Morgen...
Ich drehte den Kopf und sah die kleine Anastasia an, die mit einem besorgten Gesichtsausdruck näher gekommen war.
„Geht es ihr gut?" zwitscherte die Kleine und ich lächelte beruhigend.
„Ja, das wird schon. Camelia ist ein ziemlich ängstlicher und schüchterner Typ Mensch. Sie hat schnell Panikattacken und versteckt sich gerne mal, wenn sie in einer neuen Umgebung ist... könntest du uns etwas Raum geben? Sie wird sich nicht beruhigen, wenn du so nah bist und ich möchte ungern den netten Dr. Lector wieder bemühen müssen. Obwohl ein paar Schlaftabletten vielleicht keine dumme Idee wären. Ach... ähm... Spätzchen? Besteht die Möglichkeit irgendwo etwas zu Essen herzubekommen?"
Anastasia nickte mit großen Augen und tapste in Richtung der Tür.
„Ich sag Bescheid... ich hoffe, es geht ihr bald wieder gut!" piepste sie und ich richtete mein Augenmerk auf Cami, die immer noch schluchzte, als bekäme sie es bezahlt.
Als der jugendliche Schneewittchen-Verschnitt außer Hörweite war, drehte ich mich so, dass ich zwar aus den Augenwinkeln die Kleine im Blick halten, aber zugleich auch meine Besti vor ihren Augen verdecken konnte.

„Willst du mir jetzt sagen, was das Theater soll," murmelte ich, während ich ihr scheinbar liebevoll den Kopf tätschelte.
„Der Feind hört mit," flüsterte Cami zwischen zwei falschen Schluchzern.
Ich hob nur eine Augenbraue und wisperte: „Die Kleine?"
„Hmhm.. ist die Tochter vom Kommandanten. Wird wohl immer bei den neuen als Spionin eingesetzt um rauszubekommen, wo man herkommt und ob da noch mehr Frauen sind.."
Diese kleine, hinterhältige Mistratte!
Wäre Cami nicht rechtzeitig aufgewacht, hätte ich diesen so augenscheinlich unschuldigen Winzding vermutlich alles erzählt, wo nach sie mich gefragt hätte...
Arkansas... da hatten wir damals echt ne gute Idee gehabt... es war ein Codewort für den Fall, dass wir in Schwierigkeiten geraten und Situationsbedingt das Blaue vom Himmel runterlügen mussten.
Okay... gut, jetzt konnten wir also nicht einmal mehr offen über einen Fluchtplan reden, nicht wenn die kleinen Miss ‚große Augen' auch noch große Ohren machte und alles an Daddy weitertratschte!
Fuck, fuck, fuckedy, fuck!
„Und jetzt?" zischte ich an Camis Ohr, während ich sie wie ein Kleinkind hin und her schaukelte. Anastasia sah von der Sofaecke aus zu uns rüber und ich machte eine abwehrende Geste in Richtung meiner Besti und verdrehte mit einem Lächeln die Augen.
Die Kleine ist war echt gut!
Ich würd ihr die um unser Wohl Besorgte ohne Zögern abnehmen!
Echt Oskar verdächtig gut!
„Jetzt drehen wir den Spieß um! Ich bin weiterhin die ängstliche Heulsuse und du sagst einfach kein Wort über die Tiere. Und dann fragen wir sie aus... alles, was sie über das Lager weiß, über die Männer, die anderen Frauen... einfach alles! Und wir reden in Umkehr... dann kommen sie uns nicht so schnell auf die Spur!" flüsterte sie hektisch zurück.
In Umkehr reden... klar doch.. hatte ja bereits damit angefangen, als ich Cami als schwache, nichtsnutzige Heulsuse hingestellt hatte.

Quietschend öffnete sich die Tür und mein alter Freund Schleimbeutel Nummer eins betrat mit einem Tablett den Container.
„Abendessen, Vögelchen! Oh, gut... das andere Vögelchen ist auch aufgewacht! Aber was sind das denn für Tränen? Nicht weinen, Schätzchen! Hier passiert euch doch nichts.." flötete der Hurensohn und stellte das Tablett auf dem Esstisch ab.
Bevor er auf uns zukommen konnte, sagte ich schnell: „Schau mal, Camelia... das ist Pete. Er hat mich von draußen gerettet. Er will uns nur helfen... vor ihm musst du keine Angst haben!"
Obwohl ich meine Stimme ruhig hielt, der ängstliche Blick, mit dem ich diesen dreckigen Scheißkerl bedachte, wiegte ihn in Sicherheit.
Seinem aufgeblasenen männlichen Ego schmeichelte es scheinbar ganz enorm, dass ich aus Angst vor ihm jemanden belog, um sie in falscher Sicherheit zu wiegen...
Wie auch immer wir hier abhauen würden, wir sollten ihm und diesem Fehler von Arzt in jedem Fall ein angemessenes Abschiedsgeschenk zukommen lassen!
Das zornige Aufblitzen in Camis Augen zeigte mir, dass sie genau verstanden hatte, dann schaltete sie wieder ihr schwächliches Alter Ego ein und sah den widerlichen Kerl mit bebenden Lippen an.
„Danke... dass Sie meine Freundin gerettet haben! Und auch mich... aber bitte, Sir... bitte tun Sie uns nicht weh..." wimmerte sie und schlang die Arme um ihre Knie um sich möglichst klein zu machen.
Schleimbeutel Nummer eins schien in Gönnerlaune zu sein und hatte vermutlich im Moment den IQ eines Meter Feldweges bei Regen. Wie soll es auch anders sein, wenn das Gehirn unterversorgt ist, weil der Mann sich entschlossen hat, stattdessen mit dem Penis zu denken!
„Ach, nicht der Rede wert! Ich hab euch Essen gebracht. Der Arzt schickt für mein Vögelchen außerdem noch die Schilddrüsentabletten. Braucht ihr sonst noch was?" schmalzte der arrogante Dämlack herum.
Ich zog Cami auf die Füße und legte ihr den Arm um die meisterhaft zitternden Schultern und führte sie zum Tisch.
„Sie sagte vorhin, dass ihre Freundin öfter Panikattacken hat, wenn sie irgendwo neu ist... hat Dr. Lector irgendwas, dass ihr beim Schlafen heute Nacht helfen kann?" zwitscherte Klein-Anastasia vom Sofa her und der Schmierlappen strich sich über seinen Hals.
„Na, junge Dame... da werde ich den guten Onkel Doktor doch direkt mal für das Schätzchen danach fragen. Lasst es euch schmecken, meine Lieben. Ich bin gleich wieder da."
Mit diesen Worten segelte der Mistkerl zur Tür hinaus und Cami sah mit bebenden Kinn zu der kleinen Spionin.
„Danke, du bist wirklich lieb, Mäuschen! Meine kleine Schwester war auch so süß wie du! Sie wäre jetzt zehn..." Theatralisch schniefte meine Freundin und sah betrübt zu Boden.
Hatte ich vorhin gedacht, die winzige Verräterin hätte nen Oskar verdient?
Cami hatte nur zwei ältere Brüder, Raufbolde wie sie im Buche standen und dennoch hätte ich ihr sofort geglaubt, dass sie ihre jüngere Schwester betrauerte.
Respekt, Besti... Dieses Lager konnte sich wirklich warm anziehen!

Das VirusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt