Nicht schon wieder!

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„Das gefällt mir ganz und gar nicht!" grollte Can, aka Lichtschaltertyp, aka süßer Türke. Und er war nicht alleine mit seiner Missbilligung. Mindestens dreißig Männer standen mit vor der Brust verschränkten Armen und finsterer Miene im Halbkreis um uns herum und versuchten, Luke, Linda und mich in Grund und Boden zu starren.
Alle, ausgenommen von Sebastian.
Seine ozeanblauen Augen blickten traurig auf mich, doch er sagte kein Wort.
Fast, als hätte er die Ausweglosigkeit dieses Unterfangens längst begriffen.
Ich wich seinem Blick aus, das schlechte Gewissen nagte an mir und ließ mich ein weiteres Mal an meinem Vorhaben zweifeln.
„GENUG!" brüllte Luke schließlich über das Chaos der wild debattierenden Männer hinweg.
„Zu gehen ist Sophies Entscheidung. Und wir haben uns beim Zusammenschluss zu dieser Lebensgemeinschaft hier dazu entschieden, niemals Frauen oder sonst irgend jemanden gegen ihren oder seinen ausdrücklichen Willen festzuhalten. Wenn also die Kleine gehen muss, dann werden wir sie gehen lassen. Mir gefällt es genauso wenig wie euch, da könnt ihr mal sicher sein. Aber Sophie hat mir versprochen sich zu melden, wenn sie Schwierigkeiten hat. Also unterstützten wir unser Mädchen. Wir werden sie und ihre Freundin mit allem versorgen, was sie brauchen. Bitte, Jungs... macht es nicht schwerer, als es ohnehin schon ist. Sophie hat eine Liste aufgestellt, mit Waffen, Schlafsäcken, Isomatten und Nahrungsmittel. Wir bringen alles zusammen und Sophie kommt morgen mit ihren Pferden zurück, um die Sachen zu holen."

Neben mir scharrte Orion mit den großen Hufen und schüttelte die flammengleiche Mähne. Ich hatte ihn vor einer halben Stunde zu mir gerufen und der Hengst brannte regelrecht darauf, diesen Ort zu verlassen. Er wollte laufen... er wollte zu seiner Herde zurück...
Nachdem Luke mich zu dem Funkgerät überredet hatte, hatte ich mich unter seiner Aufsicht an den Schreibtisch niedergelassen und die besagte Liste verfasst, welche er just an die anderen Herren der Schöpfung austeilte. Der Schönling mit den Grübchen sah mich fragend an: „Ist der Bogen für dich? Den solltest du dir dann am besten selbst aussuchen... das Teil muss auf deine körperliche Stärke abgestimmt sein... du weißt schon... Zugkraft und so weiter."
Ich schüttelte den Kopf.
„Meine Freundin ist die Jägerin bei uns. Ich kann die erlegten Tiere zubereiten, aber ich schaffe es einfach nicht, den tödlichen Streich durchzuführen. Ich hab's einmal versucht und danach etwa eine Stunde heulend mit dem armen, völlig verängstigten Kaninchen gekuschelt, bevor es dann im Affentempo in den Büschen verschwunden ist. An dem Abend sind wir hungrig ins Bett gegangen... Also nein, der Bogen ist für Cami."
Der Schönling nickte nachdenklich und antwortete „Wäre es möglich, wenn deine Freundin morgen mitkommt? Denn, wie gesagt, der Bogen muss auf sie zugeschnitten sein. Ich kann dir natürlich einen Komposit Bogen mitgeben, aber es könnte gut sein, dass sie mit der Zugkraft nicht umgehen kann."
Diesmal nickte ich ohne zu zögern. Ich vertraute den Anwesenden soweit, um zu wissen, dass wir die Stadt wieder unbehelligt würden verlassen können.
Also würde ich meine Besti mit Sicherheit dazu überreden können, mich morgen zu begleiten.
Immer noch sah ich Missbilligung in den Gesichtern der Umstehenden und doch hatte sich eine leichte Resignation unter die allgemeine Stimmung gemischt.
Ja... Luke und mein Bauchgefühl hatten recht.
Sie waren völlig anders als die Wichser in dem Lager und würden mich, beziehungsweise uns nicht mit Gewalt dazu zwingen, hier zu bleiben.

Dann kam Linda aus dem Gebäude hinter uns und reichte mir einen großen Rucksack.
„Da sind Kleidung und Schuhe für Cam drin und für heute Nacht ein paar warme Decken für euch beide. Dazu noch drei Flaschen Wasser und belegte Brote. Das sollte euch zumindest bis morgen versorgen. Ach, und wenn Camelia morgen auch schon mitkommt, dann bringt doch die kleine Verräterin ebenfalls mit. Wir kümmern uns dann um sie. Das ist wenigstens eine Sache, für die ihr keine weitere Zeit aufwenden müsst..."
Die Männer um uns herum nickten mit grimmigen Gesichtern. Anscheinend hatten Luke und Linda ohne Zögern erzählt, was das kleine Biest ihren Geschlechtsgenossinen angetan hatte und Anastasia war nun auch hier schlagartig die Persona non grata geworden.
Ich lächelte die junge Frau dankbar an und schwang den Rucksack auf den Rücken.
„Danke dir... euch allen... ihr könntet es glatt schaffen, mir den Glauben an die Menschheit zurückzugeben..."
Mein Lächeln war zittrig, als
ich mich Orion zuwandte und ich wollte gerade aufsitzen, als Sebastian auf mich zu trat und mich zu einem unendlich süßen Abschiedskuss an seinen warmen, starken Körper zog.
„Take care, my sweet girl," flüsterte er leise und ich floh regelrecht auf den breiten Rücken meines Pferdes.
„Bis morgen," krächzte ich, mühsam ein Aufschluchzen zurückhaltend und gab Ri den Kopf frei. Der Hengst schnellte mit einem lauten Wiehern vorwärts. Innerhalb von Sekunden jagte er in Höchstgeschwindigkeit über die Straße und trug mich zurück zu meiner Freundin... und die Tränen, die mir über das Gesicht liefen, waren natürlich auch nur dem scharfen Luftstrom durch den Galopp geschuldet...

Schneller als gedacht erreichte ich den Windbruch und Panik durchflutete mich, als ich ihn verlassen vorfand.
Das konnte doch wohl nicht wahr sein!
Nicht schon wieder!
„CAMIIII!!" schrie ich und sah mich wild um.
Wo war sie nur?
Da waren keine Reifenspuren... keine Fußabdrücke...
WO WAR SIE?
„CAMELIA! WO BIST DU?"
Okay, okay... die wilde Panik half jetzt auch nicht weiter!
„Cami..."
Jetzt begann ich haltlos zu weinen, ob sie nun half oder nicht... die Panik war da und wurde von Sekunde zu Sekunde größer...
„SOPH!"
Kaum hörte ich ihre Stimme, rutschte ich heulend von dem Zossen und sah mich um. Nicht dass ich viel sah... tränenblind taumelte ich aber in die Richtung, in der ich meine Freundin vermutete und wurde prompt in eine typische Mamabär Umarmung gezogen.
„Oh, bei allen Sternen am Himmel! Sophie... ich dachte, sie hätten dich einkassiert! Gehts dir gut? Lass dich ansehen!"
Cam packte mich an den Schultern und sah mich prüfend an, auch ihr liefen die Tränen der Erleichterung über die Wangen.

Nachdem wir uns gegenseitig davon überzeugt hatten, dass der jeweils andere in Ordnung war, gingen wir Arm in Arm zum Windbruch zurück, wo Orion bereits in Gesellschaft seiner Brüder friedlich graste. Ardanwen wieherte und trabte zu mir her, um mich prüfend abzuschnuppern, der Schimmel folgte ihm nur Augenblicke später. Nachdem die zwei Sturmhengste sich davon überzeugt hatten, dass ich unversehrt war, vergruben sie die Mäuler wieder im saftigen Gras und überließen mich meiner Freundin.
Cam grinste breit und dann lag ich auf einmal auf dem Boden und zwei riesige, fast einhundert Kilo schwere Hunde, mit wild wedelnden Ruten versuchten mich in ihrer Wiedersehensfreude aufzufressen.
„Camhaaam!" maulte ich genervt und ein scharfer Befehl brachte Bran und Akela schließlich dazu, von mir abzulassen.
Ewww... jetzt brauchte ich dringend ein verdammtes Bad!
Hundesabber überall...
Mit steifen Schritten stakste ich zum Bach, um mich wenigstens grob zu säubern und Camis Lachen begleitete mich.
Als ich feucht, aber ohne Hundesabber zu ihr zurückkam, saß meine Besti an einen der Felsen gelehnt in der Nachmittagssonne, Bran lag über ihren nackten Füßen um sie zu wärmen.
Ich lächelte und griff nach dem Rucksack, den ich zwischen den Baumstämmen geparkt hatte.
Ich entnahm ihm ein paar Socken und die Turnschuhe, die Linda für Cam eingepackt hatte und reichte ihr die Geschenke.
Sie sah mich mit einem undurchdringlichen Blick an, dann griff sie zögernd nach den Tretern.
„Was musstest du dafür machen?" fragte sie leise, eine Mischung aus Wut, Verzweiflung und seltsamerweise Resignation schwang in ihrer Stimme.
Ich setzte mich ihr gegenüber hin und kraulte Akela, der sich winselnd auf mich zubewegt hatte hinter den Ohren.
Dann holte ich tief Luft und begann zu erzählen...

Das VirusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt