Wahrheit und Lüge

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Die eisige Winterluft brannte in meiner Kehle, als ich an Orions warme Flanke gelehnt über die im Sonnenlicht glitzernde weiße Schneepracht blickte.
Ardanwen und Fedaikyn schienen derweil die Zeit ihres Lebens zu haben und stoben wie vom wilden Affen gebissen, irre in alle möglichen Richtungen auskeilend durch die verlassenen Straßen der Stadt.
Der rote Hengst drehte seinen Kopf und musterte mich aus dunklen Augen. Ich sah da brennende Verlangen zu Laufen in den kaffeebraunen Tiefen und gab dem Tier einen zustimmenden Klaps auf die Hinterhand.
Zufrieden sah ich zu, wie Ri sich seinen Herdenbrüdern anschloss und eine Wolke aus Pulverschnee hinter sich her wirbelnd durch den funkelnden Schnee preschte.
Ich drehte mich mit einem amüsierten Kopfschütteln um und prallte gegen eine Wand aus Muskeln.
„Au!" merkte ich treffend an und rieb mir die schmerzende Nase. Eine warme Hand umfasste behutsam mein Kinn und hob mir sanft den Kopf an. Besorgte blaue Augen musterten mich prüfend, dann schmunzelte Henry und strich mit einem Daunen über meinen Wangenknochen.
„Alles ok, Darling?" fragte er leise und ich nickte wie auf Autopilot. Der Brite beugte sich zu mir runter und seine Lippen strichen hauchzart über meinen Mund und in meinem Gehirn verdrahtete sich spontan alles um. Anders ließen sich der rasende Herzschlag, das Kribbeln im Bauch und die fehlende Standfestigkeit meiner Beine nicht erklären, oder?
Hechelnd lagen sich meine innere Feministin und meine mittlerweile chronisch dauergeile, weil untervögelte und zeitgleich völlig reizüberflutete Libido in den Armen.

Der Mann löste sich von mir und griff im nächsten Augenblick wieder zu, da meine Knie vergessen hatten, wie ihre ursprüngliche Job-Beschreibung ausgesehen hatte und nun den Dienst quittierten.
Grinsend hob Superman mich schwungvoll hoch und stapfte durch den Schnee zurück.
Mittlerweile waren Cami und ich seit gut drei Wochen hier und irgendwann hatte es angefangen, sich normal anzufühlen. Das Schlafen in einem richtigen Bett... warme Duschen... Zahnhygiene mit echter Zahnpasta... und ja... auch die Männer.
Cam war bei Jason eingezogen - das dürfte jetzt niemandem überraschen - und war dank ihm und seiner Betreuung während ihrer Physiotherapie wieder vollkommen fit. Regelmäßig zog sie nun mit den Jägern der Gemeinschaft los und trug ihren Teil bei.
Ich hingegen...
Mir fiel es bedeutend schwerer mich einzuleben, oder die Schwäche aus meinen Gliedmaßen zu vertreiben. Dieser heutige Ausflug war der längste, den ich unternommen hatte, seit das Doktorchen mich offiziell als geheilt betitelt hatte.
Und ich war jetzt schon wieder bereit, mich ins Bett zu wühlen und bis zum Frühjahr durchzuschlafen.
Wenn doch nur die Alpträume nicht wären...
Ein nächtlicher fröhlich bunter Blumenstrauß an aufmarschierenden Grausamkeiten.. mal wurde Cami vor meinen Augen von Wölfen zerrissen, mal waren es die Bären, die ihr Festmahl hielten... dann saß ich wieder in diesem Stuhl im Krankenzelt des Re-Populationslagers, nur dass Dr. Mausetot Lektor und der Widerling Pete mich dieses Mal nicht halbwegs unbeschadet wieder gehen ließen. Wenn ich nach diesem speziellen Traum erwachte, kroch ich zitternd aus dem warmen Bett, dass ich mit Seb, Henry oder Can teilte und rollte mich auf irgendeiner Couch zusammen.
Unfähig weiterzuschlafen wartete ich dann auf das Nahen des Sonnenaufgangs.
Aufgrund des Schlafmangels erholte ich mich daher wesentlich langsamer als Luke diagnostiziert hatte...

„Da wären wir, Love."
Henry sah mit einem zärtlichen Lächeln auf mich herunter und setzte mich auf der Schwelle zum Gemeinschaftshaus ab. Er tippte mir mit einem Finger auf die Nase und flüsterte: „Es ist Essenszeit!"
Köstliche Düfte wehten uns entgegen und dann umschlangen mich starke Arme von hinten.
„So, meine Lieblingspatientin... heute gibt es zum Nachtisch Apfelkuchen. Linda hat ihre große Liebe gefunden und rate mal... es ist der Backofen!"
„Ich geb dir gleich Backofen, du DOKTORCHEN!" brüllte seine Schwester aus der Küche herüber.
Cami und ich sahen uns an und grinsten verstohlen. Luke hatte also einen neuen anerkannten Spitznamen, an dem wir vielleicht nicht ganz so unschuldig waren..
Upsi... Sorry, Doktorchen!
Der junge Arzt verdrehte die Augen und führte mich zum Tisch, an welchem Cami bereits heftig flirtend mit Jason und ein paar anderer Herren der Schöpfung saß.
Sie blickte auf und ihr Ausdruck wurde schuldbewusst. Sie hatte ein schlechtes Gewissen darüber, dass sie sich so schnell angepasst hatte, während ich immer noch solche Schwierigkeiten hatte... das konnte ich deutlich sehen.
Ich lächelte sie beruhigend an und sagte: „Viele Grüße von den dreien. Zu sagen, dass sie ausgelassen sind, wäre wohl dezent untertrieben!"
Meine Besti seufzte zufrieden. Sie war genauso erleichtert wie ich, dass die drei Hengste den Gewaltritt durch den Schneesturm unbeschadet überstanden hatten.
Linda unterbrach unser lautloses Gespräch, indem sie einen großen Topf Kartoffelsuppe auf den Tisch stellte und anfing auszuteilen.
Wie schon die letzten Tage bekam ich eine besonders große Portion und genau wie in den letzten Tagen stocherte ich unschlüssig darin herum.
Das die Gespräche am Tisch aufgehört hatten, bemerkte ich erst, als Cami mir unterm Tisch einen kameradschaftlichen Tritt verpasste.
„Au!" meckerte ich zum zweiten Mal an diesem Tag und sah meine Freundin vorwurfsvoll an.
„Was ist los mit dir, Soph? Du siehst immer noch aus wie der Tod auf Urlaub, du isst kaum, du schläfst nicht wirklich..."
Ich atmete tief durch und schaufelte rasch einige Löffel in mich hinein. Mit vollen Backen versuchte ich mich an einem Unschuldsblick a la Anastasia.

Die kleine Verräterin war wirklich gut darin gewesen, das Unschuldslamm zu markieren. Auch wenn ich stark bezweifelte, dass ihr das in ihrem neuen Zuhause nützen würde.
Jason höchstpersönlich hatte den Schneewittchen Verschnitt in ein Lager gebracht, dass tief in den Alpen lag. Er hatte dem Kommandanten dort erklärt, dass er das Mädchen auf der Fahrt gefunden hätte und sie sehr verwirrt gewesen sei. Hätte wohl die ganze Zeit davon gefaselt, dass sie die Tochter eines Lageranführers sei und ihr Daddy sie alle bestrafen werden würde.
Der andere Mann hatte nur gelacht und Anastasia zu dem Arzt geschickt, um ihre Fruchtbarkeit zu checken. Dann hatte er gesagt, dass ihm völlig schnuppe sei, ob die Kleine das Töchterchen vom Papst sei oder gar von einem anderen Kommandanten. Sie war eine weibliche Person und als solche gehörte sie zum Kinderkriegen in ein Lager.
Beruhigt hatte Jason zugestimmt und hatte sich auf den langen Heimweg gemacht.
Als nur wenig später Daddy Arschloch hier in der Stadt aufgetaucht war und eine rührselige Story über drei Flüchtige, die seine kleine unschuldige junge Tochter entführt hatten gefaselt hatte, war es ausgesprochen hilfreich, dass so viele ehemalige Hollywood Größen in dieser Stadt ihr Zuhause gefunden hatten.
Voller angeblicher Sorge hatten die Männer Mitgefühl geheuchelt und überaus hilfreich die Hand gereicht. Der Kommandant suchte sein armes Baby nun irgendwo an der polnischen Grenze...

„Sophie? Halloho? Erde an Mond!"
„Hm? Was denn? Ich esse gerade!" nuschelte ich mit einem Augenrollen, auf welches Cam aber nicht reinfiel.
Sie kannte mich einfach zu gut...
Seufzend legte ich den Löffel neben den Teller und rückte schließlich mit der Wahrheit raus.
Genauer gesagt konnte man das eher als verbalen Durchfall bezeichnen.. dabei wurde ich immer lauter und somit erfuhren alle Penisträger von meinen Alpträumen, meinen Selbstzweifeln und meiner Eifersucht auf Jason, weil dieser meine Besti nun für sich vereinnahmte.
Zum Schluss war ich mal wieder ein heulendes Wrack und lag in einer typischen Mamabär-Umarmung Camis.
„Ach, Soph... Schatz... warum hast du mir nicht früher was gesagt? Du weißt doch, dass du meine oberste Priorität bist! Du bist meine Familie und wenn es dir schlecht geht, geht es mir schlecht! Also... was wir jetzt machen werden: du wirst erstmal in Ruhe aufessen, denn - mal ehrlich - du bist ein Gerippe, mein Hase. Dann wird unser geliebtes Doktorchen mit dir reden, was wir gegen diese Alpträume machen können! Und dann machen wir zwei mal wieder einen Ausritt. Nur wir beide... was meinst du? Guter Plan?"
Schniefend nickte ich und löffelte brav weiter. Die wachsamen und mitleidigen Blicke sämtlicher Männer in diesem Raum lagen dabei auf mir, bis Cam sie drohend anfunkelte, so dass sich alle schnell wieder auf die zugegebenermaßen köstliche Suppe von Linda konzentrierten.

Das VirusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt