Here we go again!

328 30 2
                                    

Zu sagen das Chaos sei ausgebrochen, wäre vermutlich eine winzige Untertreibung gewesen. Luke war vor seiner Schwester auf die Knie gefallen und presste die weinende Frau an sich.
Ich meine, ich mochte ja Happy Ends - so wie die meisten Menschen - aber auf den Ellbogen in der Kehle hätte ich dann doch schon ganz gerne verzichtet. Der Arzt bekam nicht mal mit, dass ich milde vor mich hinröchelte... zu seiner Entschuldigung sei gesagt, dass er sehr wahrscheinlich auch nicht mitbekommen hatte, wie besagte Gliedmaße in meinem Hals gelandet war, so brüsk, wie er seine verschollene Schwester in die Arme geschlossen hatte. Henry seufzte, hob mich einfach vom Boden hoch und setzte mich auf die Theke.
„You're okay, Darling?" fragte er besorgt und rieb sanft über meine Kehle. Mit hochrotem Kopf, immer noch nach Atem ringend, reckte ich einen Daumen empor und bemühte mich krampfhaft Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen.
Seb trat hinzu und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine ozeanblauen Augen musterten mich eindringlich und unwillkürlich gingen meine Gedanken - trotz Erstickungsorgie - zu der Nacht meiner Flucht aus der Stadt zurück. Dieses unglaubliche Rumgeknutsche war aber auch schwer zu vergessen und das leichte Schmunzeln, dass die vollen Lippen den Amerikaners verzog sagte mir, dass ich nicht als einzige meine Gedanken aus der Sexy-Ecke holen musste.
„Wir sollten die beiden Frauen reinbringen, solange die anderen noch im Halbkoma liegen," sagte Can und erwies sich als Stimme der Vernunft in diesen Gruppen-Konstellation.
Das brachte das schluchzende Geschwisterpaar wieder zu sich, Luke stand auf, zog seine kleine Schwester hoch und klopfte sich den Staub von der Hose.
„Can hat recht... Los geht's" sagte er und zog Linda hinter sich her zur Tür hinaus.
Die drei anderen Männer betrachteten mich amüsiert und dann fragte der hübsche Engländer doch allen ernstes: „Kannst du laufen?"
Ähm... Hallo?
Was dachte der denn bitte schön, wie ich hier hergekommen war? Mit dem fliegenden Teppich von Aladdin?
Schnaufend verdrehte ich die Augen und hüpfte elegant von der Ladentheke hinunter. Sebastian lachte auf und zog mich in eine innige Umarmung.
„I missed you, love. Why did you run away? We could have helped you..."
Nein, das würde ich jetzt bestimmt nicht machen.
Ich würde jetzt nicht darüber nachdenken, wie es gelaufen wäre, hätte ich tatsächlich auf ihre Hilfe gewartet.
Mir wäre mit Sicherheit die Zeit mit dem widerlichen und jetzt glücklicherweise sehr toten Doktor Lector erspart geblieben. Und vermutlich hätte ich auch Schleimbeutel Nummer eins nicht näher kennen lernen müssen. Ganz zu schweigen von der kleinen Möchtegern Spionin und unserer amtierenden Geisel. Allerdings wäre Cami dann jetzt auch vermutlich in einer sehr viel schlimmeren Verfassung. In sofern...
Mühsam drängte ich die Tränen zurück und löste mich behutsam aus seiner Wärme.
„Mir geht's gut. Ich hab meine Freundin rechtzeitig gefunden und wir sind da wieder rausgekommen. Nur das zählt..."
Ein Blick in die Gesichter der drei Männer sagte mir ganz klar, dass sie mir nicht wirklich glaubten und dass ihnen die Antwort nicht ausreichen würde! Dennoch folgten wir nun den Geschwistern und vertagten damit das Gespräch, dass ihnen so sehr auf der Seele brannte.

Wir holten die beiden schließlich im Arztzimmer wieder ein, wo Luke bereits mit der Untersuchung seiner kleinen Schwester begonnen hatte. Linda warf mir einen Blick zu und lächelte mich dankbar an.
Der Arzt bemerkte mein Erscheinen, legte das Stethoskop kurzerhand zur Seite und zog mich in eine feste Umarmung. Er presste seine Lippen gegen meine Schläfe und flüsterte:
„Oh, Sophie... Ich danke dir so sehr! Ich hätte niemals gedacht, dass ich meine kleine Schwester wiedersehen würde. Aber du hast sie mir zurückgebracht. Sie hat mir erzählt, dass du darauf bestanden hast, sie auf eurer Flucht mitzunehmen. Also egal, was du brauchst, meine süße Kleine... Sag es mir und ich gebe es dir."
Ich lächelte ihn an und sagte: „Schon gut, Luke... ich bin froh, dass sie tatsächlich deine Schwester ist. Es war ein Glücksschuss und die Chancen standen fifty-fifty. Hat sie schon gesagt, dass sie schwanger ist?"
Luke drehte sich um und betrachtete seine Schwester. Linda hatte den Blick zu Boden gesenkt, während Tränen wieder sturzbachartig über ihre Wangen liefen.
Anscheinend war das alles an Information, die der Arzt benötigte und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich merklich.
Ohne ein weiteres Wort rollte er den Ultraschallwagen heran und bedeutete der jungen Frau, sich auf der Liege flach hinzulegen.
Um den beiden ein wenig Raum und Ruhe für die Untersuchung zu geben, zog Henry mich kurzerhand in das Nebenzimmer und setzte mich dort auf einem Bett ab.
„Now, Baby... talk... what happened?"
Und dann erzählte ich... Zwar die deutlich jugendfreiere Version der Ereignisse, aber dennoch so umfangreich wie möglich. Über kurz oder lang würde ich ihre Hilfe benötigen, und da war es einfach nur fair, dass sie über das Geschehene Bescheid wussten.
„Ich glaube, du hast was wichtiges ausgelassen," sagte eine helle Frauenstimme, als ich geendet hatte und mein Kopf fuhr hoch.
Linda und Luke standen im Türrahmen und hatten offensichtlich alles mitbekommen. Was jetzt auch nicht weiter verwunderlich war, da die Tür die ganze Zeit sperrangelweit offen stand.
Innerlich schlug ich mir gegen den Kopf!
Dummheit ließ grüßen!
Meinen unschuldigsten Gesichtsausdruck herauskramend, blickte ich die beiden fragend an.
Linda schüttelte schnaubend den Kopf und meinte: „Vergiss es. Diese Art von Unschuldsmine versucht Luke auch ständig bei mir. Hat aber bei ihm ebenfalls nie funktioniert! Du vergisst, dass ich in der Gasse ein Blick auf deinen Oberkörper werfen konnte! Also... Ich glaube, du hast in deiner Geschichte etwas vergessen."
„Oberkörper? Was ist mit ihren Oberkörper? Sophie... zieh doch bitte mal dein T-Shirt aus!"

Ja, nö!
Mit Sicherheit nicht!
Wo kämmen wir denn da hin? Ich würde unter Garantie...
„SOPHIE! Jetzt!"
Ok, das kam mir dann doch verdächtig bekannt vor! Fröhlich winkte mich das Deja Vu an und völlig verdattert gehorchte ich dem dominanten Tonfall des Arztes.
„Fuck!" entfuhr es Sebastian und auch Luke knirschte mit den Zähnen.
Dann trat er auf mich zu und sah mir tief in die Augen.
„Schwesterherz? Hole mir doch bitte einmal den Ultraschallwagen. Und du, meine Kleine... Du erzählst mir jetzt, warum Hämatome in Form von Händen auf deinen Brüsten sind. Und von diesen ganzen kleinen Schnitten will ich gar nicht erst anfangen."
Hä?
Was für Schnitte?
Verwirrt blickte ich an mir herunter und oh ja... Da waren viele winzig kleine Kratzer über meinen gesamten Oberkörper verteilt. Anscheinend hatte ich nicht alle Glassplitter aus dem Stoff klopfen können und die verbliebenen hatten beschlossen mir das Leben ein bisschen schwerer zu machen.
Großartig!
Wirklich großartig!
„Sophiiiie...."
„Was?" maulte ich. „Das geht dich gar nichts an!"
Verstocktes Kleinkind?
Jepp! So was von.
Aber das war mir im Moment echt total wummpe. Ich war totmüde, hungrig und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, klopfte da ein mittelschwerer Schwindel in meinen Gehirnwindungen an.
Diese blöde Schilddrüse erinnerte mich doch immer in den unpassendsten Augenblicken daran, dass sie ihre Funktion in naher Zukunft einstellen wollte.
Medikamente waren also noch eine Sache mehr, die ich würde besorgen müssen, bevor ich wieder die Fliege machen konnte.
Und das wiederum brachte mich zu der treffenden Eingebung, dass dieser Ausflug mal so überhaupt nicht durchdacht gewesen war!

Das VirusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt