Aufbruch in Ungewisse

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„Mein Vater ist der Kommandant von Lager vier! Er wird euch reich belohnen, wenn ihr mich zurückbringt! Oh, bei der Liebe Gottes... bitte rettet mich doch!"
Dieser Monolog Anastasias wurde von verzweifelten Schluchzen und Händeringen begleitet und war so überzeugend, dass selbst Sebastian aufhörte, mit mir rumzuknutschen und nun hoch interessiert der Performance zusah.
„Verdammt... ist die gut!" flüsterte Cami in meine Richtung und bewies, wie sehr wir doch auf einer Wellenlänge waren, als sie hinzufügte: „Ich wünschte nur, ich hätte eine Tüte Popcorn!"
Sebastian schnaubte amüsiert und die kleine Giftspritze vor uns setzte jetzt zum großen Finale an.
„Sie halten mich schon seit Tagen gefangen, ich hab nichts zu essen oder zu trinken bekommen und in der Nacht haben sie mich frieren lassen. Sie drohen ständig damit, diese riesigen Köter auf mich zu hetzen, um mich zu zerfleischen, oder wollen mich von einer Bärenhorde in Stücke reißen lassen. Ich habe nichts getan, um diese Grausamkeit zu verdienen... Ich war immer nur nett zu den beiden, hab versucht, ihnen zu helfen. Ich flehe euch an... bitte lasst das nicht zu!"
Schneewittchen Junior rollte sich heulend zu einem Ball zusammen und Cami, Linda und ich brachen in lautes Johlen und heftigen Beifall aus.
Hey, eine derart fantastische Darbietung, verzweifelter, verängstigter und völlig gerechtfertigter Furcht musste einfach gewürdigt werden!
Zumal angesehen von ihren guten Absichten nichts erfunden gewesen war.
„Ich muss je gestehen, ich bin für eine sehr tiefe Felsspalte! Die Giftspritze an Tiere zu verfüttern könnte glatt bewirken, dass Greenpeace neu gegründet wird!" sagte Cami und Akela bellte zustimmend.

Luke warf uns einen strafenden Blick zu und schüttelte aber mit einem versteckten Grinsen  den Kopf. Christian kicherte leise vor sich hin und Jason stakste mit steifen Schritten auf das heulende Häuflein Elend am Boden zu.
„Get up," schnauzte er und schubste sie mit einem Fuß an. „Du brauchst gar nicht erst versuchen, uns einen Bären aufzubinden. Wir wissen längst was wirklich geschehen ist. And just so you know... du widerst uns an! Du kannst sagen, was du willst, von uns hast du keine Sympathie zu erwarten. Henry? Übernimmst du diese kleine Schauspielerin bitte? I'd say until we know what to do with that bitch, we'll put her in the cellar!"
Henry beugte sich zu dem plärrenden Gör herunter und packte sie am Oberarm. Grob riss er sie hoch und zerrte sie einfach hinter sich her, während er mit einem Stechschritt auf ein Gebäude etwas abseits zuhielt.
Ihr Heulen wurde leiser und leiser und dann - Gott sei Dank - kehrt endlich Stille ein.
Cami massierte sich seufzend die Schläfe und sagte schließlich:
„Ich bin echt froh, dass uns diese Bürde abgenommen wird! So viele Aspirin kann ich gar nicht futtern, um die Kopfschmerzen zu vertreiben, die ihr Geplärre mir verpasst hat! Soooo.... Wo war denn noch gleich der junge Mann für die Waffen?"
Schönling trat vor und zwinkerte ihr grinsend zu.
Meine Besti machte eine auffordernde Kopfbewegung und sagte:
„Vamonos! Die Zeit rennt uns ein wenig davon. Oder um Sofies Lieblingsserie zu zitieren: Winter is coming!"
Ich verdrehte die Augen und stiefelte in Lukes Richtung.
Jason betrachtete mich kurz mit einen seinen leicht finsteren Blicken, grinste dann breit und trabte los, um sich Cam und dem Schönling anzuschließen.
Mein Onkel Doktorchen musterte mich mit einem liebevollen Blick und strich mir sanft mit dem Fingerknöcheln über das Kinn.
„Na, meine kleine Lieblingspatientin. Wie geht's dir?" fragte er lächelnd und schloss mich in eine warme Umarmung. Dann legte er mir die Hand auf meine Schulter und bugsierte mich zu dem Haufen an Sachen, die unter der Pappel aufgestapelt waren.
„Es ist alles da. Und noch ein paar zusätzliche Dinge von denen wir dachten, dass sie euch nützlich sein könnten."
Zögernd ging ich vor dem ganzen Zeug in die Hocke. Luke hatte nicht gelogen... alles von meiner Liste lag hier vor mir ausgebreitet. Zwei Thermoschlafsäcke, fünf dicke, komprimiert zusammengerollte Isomatten, jeweils eine Daunenjacke für Cami und mich, Pullover, Hosen, Strümpfe, Handschuhe und Schals und warmes Schuhwerk... zwei große Alu-Töpfe, zwei Pfannen, drei verschieden große Jagdmesser, ein Wetzstein, Angelhaken und eine Rolle Nylonschnur. Alufolie und eine neue Rolle Backpapier.
Luke hockte sich neben mich, dann deutete er auf einen kleinen Beutel.
„Darin sind deine Schilddrüsen-Medikamente, Wundsalbe, Antibiotikum und Spritzen, Fiebersenkende Medizin... oh, und natürlich Schmerzmittel."
Linda kam an meine andere Seite und legte ihren Kopf an meine Schulter.
„Ich hab auch noch für Damen Hygieneartikel gesorgt. Wiederverwendbare Binden, ein paar Menstruationstassen und Waschlappen."
Mühsam schluckte ich den Kloß in meiner Kehle hinunter.
Das war echt zuviel...
Ich fühlte mich so unsagbar beschissen.
Sie gaben uns alles, was wir zum Überleben im Winter benötigten und zum Dank würden Cam und ich einfach in den Weiten des Landes verschwinden?!

Das VirusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt