Noch nicht gesund

299 37 0
                                    

„Ich war krank... mit Betonung auf war! Ich kann meine Schuhe selbst anziehen! Und denk nicht mal dran, mich gleich durch die Gegend zu tragen!" Genervt funkelte ich Sebastian an. Dieser kniete vor mir auf dem Boden und band mir trotz meiner andauernden Schimpftirade seelenruhig die Turnschuhe zu. Dann sah er zu mir auf und ich versank ein Mal mehr in diesen ozeanblauen Augen.
Das leichte Lächeln, das er mir nun schenkte, ließ auch noch verdammten Grübchen aufblitzen. Und natürlich erinnerte meine just wieder erwachende Libido, dass ich tatsächlich nicht gestorben war und schickte einen Blitz bis hinunter in meine privaten Bereiche.
Großartig, wirklich großartig!
„Na, komm schon, Darling... sei nicht so stubborn! Wir wollen dir doch nur helfen..."
„Ja, ja, ja... ist klar! Trotzdem kann ich alleine laufen." maulte ich und wackelte zielstrebig an dem niedlichen Amerikaner vorbei und machte mich erneut auf die Suche nach der vermaledeiten Treppe.
Nachdem ich in der dritten Sackgasse gelandet war, drehte ich mich genervter denn je zu meiner Eskorte um und bemerkte erstaunt, dass diese beträchtlich angewachsen war. Statt nur Sebastian hinter mir herstiefeln zu sehen, waren auch Henry, Can und die Grinsekatze Christian zu uns gestoßen.
„Habt ihr schon mal daran gedacht, hier Schilder und Warnhinweise aufzustellen? Oder wenigstens Pfeile aufzumalen, die zum Ausgang deuten?" meckerte ich und stützte mich möglichst unauffällig an der Wand ab, damit die vier Kerle nicht direkt spitz bekamen, wie fix und fertig ich wirklich war.
Henry lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an dieselbe Wand, die auch schon mir als Stütze diente und lächelte charmant vor sich hin.
„Nope... we don't need them... aber wir helfen gerne..."
Ich warf einen kurzen finsteren Seitenblick auf den kichernden Sebastian und verdrehte die Augen.
Gott, ich konnte ja selber nicht so recht begreifen, warum ich heute so mega zickig drauf war. Um ehrlich zu sein, ging ich mir selbst ziemlich auf den Keks... Aber diese Männer machten mich schlicht und ergreifend wahnsinnig unsicher. Ich wusste nicht, wie ich mit der ganzen Situation umgehen sollte und ich war so weit aus meiner Komfortzone heraus, dass ich mir sicher war, diese nicht einmal mehr auf einer Weltkarte wiederfinden zu können.
Und die Tatsache, dass meine so genannte beste Freundin sich anscheinend hier ohne weitere Probleme hervorragend eingelebt hatte, machte mir ebenfalls zu schaffen.
Fühlte ich mich draußen in der Wildnis tatsächlich so viel wohler als hier drinnen? Wo es warm war, wo ich so etwas wie ein eigenes Bett hatte, Gesellschaft und Essen, dass ich nicht selber erbeuten musste... Von der warmen Dusche will ich gar nicht erst anfangen!
Was zum Geier war also nur los mit mir?

Ein lautes Bellen riß mich aus meinen Überlegungen und eine Sekunde später lag ich auf dem Rücken und ein 100 Kilo schwerer Kangal-Mischling mit schwarzem Fell versuchte mich von Kopf bis Fuß abzuschlabbern. Anscheinend sandte das Deja Vu mal wieder seine Grüße!
„Akelaaa..." jammerte ich und versuchte den Köter, der vor lauter Wiedersehensfreude fast austickte, von mir runterzuschieben.
Kaum hatte ich das geschafft, gesellte sich sein Bruder zu uns und das ganze Spiel ging wieder von vorne los.
Nachdem die Hunde mir nochmals eindrucksvoll bewiesen hatten, wie sehr sie sich freuten, mich wiedergefunden zu haben, begriff ich, dass ich nun die glänzende Möglichkeit hatte, die fehlende Beschilderung auszugleichen.
„Bran, Akela... nach draußen!" kommandierte ich und die beiden Köter setzten sich brav auf ihre vier Buchstaben und sahen mich erwartungsvoll mit aufgerichteten Lauschern an.
Ich deutete auf den Gang hinter den vier Männern... Nein, sorry... mittlerweile waren es sieben... und wiederholte mein Kommando an die Fellträger.
Zeitgleich machten die beiden brav ein Männchen.
Die Kerle brüllten los vor Lachen und ich sah Bran und Akela fassungslos an.
Jetzt verarschten mich auch schon die Köter?! Wow...
Damit war ich offiziell an einem neuen Tiefpunkt angelangt.
Kopfschüttelnd ließ ich die giggelnde Bagage hinter mir und stakste sauer bis zum Erbrechen, hoch erhobenen Hauptes an allen vorbei.
„Baby... wait... i'll show you the way!" rief Henry, immer noch lachend und ich wankte in die nächste Sackgasse hinein.
Okay, das war's!
Meine Selbstbeherrschung hatte ihr Limit erreicht und ich war fertig.
Ich heulte frustriert los.
Nicht der stolzeste Moment meines Lebens, das will ich zugeben, aber augenscheinlich war ich noch meilenweit davon entfernt wieder gesundheitlich auf dem Damm zu sein.
„Schsch... it's all right, sweetheart... c'mon... i'll take you to your horses!"
Henry hob das schluchzende Wrack hoch, welches ich gerade war und trug mich mit sicheren Schritten in die komplett andere Richtung, als die, die ich vorhin eingeschlagen hatte.
Die Erkenntnis, wie grandios ich mich verlaufen hatte ließ mich nur noch verzweifelter weinen. Ich kam mir wie der größte Vollidiot unter der Sonne vor...
Gott, was war mein Problem?
Ich war doch sonst auch keine Heulsuse!
Gut möglich, dass meine geistige Gesundheit nach den Ereignissen der letzten Wochen nun echt am bröckeln war... vielleicht war es alles schlichtweg zu viel gewesen...
Der Bärenangriff, Camis Blutvergiftung, ihr Verschwinden und dann die Ereignisse in dem Re-Populationslager und selbstverständlich wurde ich direkt im Anschluss krank und wir mussten durch einen Schneesturm um unser Leben reiten..
ich war so müde...
Wäre es sehr verwerflich, wenn ich einfach hier in den starken Armen eines Mannes bleiben würde? Mich in seine Körperwärme hineinkuscheln und ihm erlaube, mir zu helfen?
‚NEIN!' keifte meine nun extrem genervte innere Stimme und warf stocksauer die Arme hoch. Augenscheinlich erlebte nicht nur ich am heutigen Tag ein Deja Vu nach dem nächsten!
Eventuell könnte ich meinen aktuellen Geisteszustand ja als temporären Systemausfall bei mir werten und nach dem Reboot, wenn es mir wieder gut ging, würde ich dann zur Tagesordnung übergehen und alles was einen Penis hatte, wieder anknurren...
Ja... ja... das war ein guter Plan.
Also vergrub ich mein verheultes Gesicht an Henrys Halsbeuge und genoß unbewusst das Spiel der Muskeln seines starken Körpers, als er mit großen Schritten die blöde Treppe hinabstieg.
„Love? You're ok? Still crying? Are you feeling a bit better?" fragte der Mann mit seinem extrem heißem britischen Akzent.
Ich schnuffelte und presste mich fester an ihn. Noch war ich nicht bereit, ihm in die Augen zu sehen... und wenn ich ehrlich zu mir war, mir meine eigene Schwäche wirklich selbst einzugestehen.

Die kalte Winterluft war das erste Indiz dafür, dass wir draußen waren, das Knirschen des Schnees unter Henrys Stiefeln das zweite...
Und das helle Wiehern, dass nun zu uns hinüberschallte ließ gleich eine Wagenladung Steine von meinen Schultern purzeln. Dieses Gefühl der Erleichterung verdreifachte sich, als ich den Kopf hob und Orion, Ardanwen und Fedaikyn auf uns zustromern sah.
Ich wand mich aus Henrys Armen und taumelte so schnell wie möglich auf meine drei Jungs zu. Erst kurz vor mir bremsten die riesigen Sturmhengste ab und umzingelten mich sofort. Ihre bebenden Nüstern wanderten über meinen Körper, schnupperten nach Verletzungen und ich tat mein Möglichstes um sie beruhigend zu streicheln... um herauszufinden, ob sie den Gewaltritt durch den Blizzard auch gut überstanden hatten...
Als die Männer sich nun langsam näherten, schnaubten die Hengste warnend und legten fast zeitgleich die Ohren flach an.
Jetzt, da ich wieder bei ihnen war, würden sie keine fremde Hand mehr an sich dulden!
„Und ich dachte schon, sie würden uns mögen!" murmelte einer der Herren traurig und die helle Stimme meiner Besti sagte fröhlich: „Nimm's nicht so schwer, Kerem. Die Gäule können selbst mich nicht ausstehen... und ich kenn sie schon ihr ganzes Leben. Sie sind halt genauso dickköpfig, wie ihre Herrin!"

Pfff... ich war nicht dickkö... ok, gut.. war ich schon, aber zumindest bei den Pferden war das eine eindeutige Fehldiagnose!
„Prägung hat nichts mit Dickköpfigkeit zu tun," maulte ich leise und bückte mich, um Orions Hufe zu untersuchen.
Und als hätte ich noch mehr Beweise gebraucht, dass es mir definitiv noch nicht gut ging, schlug der Schwindel mit voller Wucht zu, als ich Ri's rechten Vorderhuf gerade anheben wollte...
... ich kippte sang und klanglos mit dem Kopf voran in den Schnee.
Und wieder einmal umfing mich tiefe Dunkelheit...

Das VirusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt