Kompromisse

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„Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?"
Fassungslos sah Luke mich an und verschränkte die Arme vor der Brust.
Na schön, Doktorchen... das Spiel konnten wir auch zu zweit spielen!
Ich spiegelte also seine Bewegung und musterte ihn verstockt und bockig wie fünfjähriges Mädchen, dem die Mutter gerade seine Lieblingspuppe weggenommen hatte.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht! Das ist mein Leben, meine Entscheidung... So leid es mir tut, aber da hast du leider nicht mitzureden."
Luke warf frustriert die Arme hoch und fauchte: „Verdammt, Sophie. Das ist kein Spiel! Wir haben Oktober, Himmelherrgott! Kannst du mir mal erklären, wie du den Winter draußen in der Wildnis überleben willst? Selbst wenn deine Freundin, von der Linda uns berichtete, Superkräfte hat... Ihr habt maximal sechs bis sieben Wochen für die Vorbereitungsarbeiten. Und in dieser Zeit müsst ihr eine winterfeste Bleibe finden, Vorräte anhäufen, euch mit Winterkleidung und Schlafzeug eindecken, trockenes Holz sammeln... Hab ich irgendetwas vergessen? Ach ja... Und das alles natürlich ohne irgendwelchen Sammelpatrouillen vor die Flinte zu geraten. Wenn die Geschichten über das Lager aus dem ihr getürmt seid auch nur ansatzweise wahr sind, dann habt ihr in ein Gott verfluchtes Hornissennest gestochen. Das verräterische Mistbalg mitzunehmen, mochte in diesem Moment vielleicht eine gute Idee gewesen sein, aber so im Nachhinein betrachtet... Die Kleine ist ein Mühlstein, der euch in die Tiefe ziehen wird. Das muss doch auch in deinen Dickschädel reingehen!"

Mensch, Maier... übertreib halt!
Es war ja nicht so, als hätten wir noch nie einen Winter im Freien verbracht. Mit Schaudern erinnerte ich mich an den vor zwei Jahren. Da hatten wir nämlich keine wirklich winterfeste Bleibe gefunden, wie Luke es so schön ausgedrückt hatte... Im Endeeffekt hatten wir uns irgendwo in der Eifel in einer winzigen Höhle eingegraben und waren lange vor Ende des Winters wieder nach draußen gezwungen worden. Schlicht aus dem Grund, weil uns die Vorräte ausgegangen und wir kurz davor gewesen waren, Frostbeulen zu bekommen!
Na, klar... ein Winterquartier in einer Stadt, beziehungsweise in einem Haus, vorzugsweise mit Heizung und Warmwasser, war dem alle mal vorzuziehen, doch ein solcher Luxus kam immer mit einem Preis.
Ein Preis, den weder Cami noch ich zu zahlen bereit waren.
Ganz besonders nicht nach unserer Erfahrung in dem Re-Populationslager!
Es waren immer meine beste Freundin und ich gegen den Rest der Welt gewesen.
Und auch wenn da eine winzige, kleine Stimme ganz tief in meinem Hinterkopf verzweifelt versuchte, sich Gehör zu verschaffen, indem sie anfing, eine Pro und Contra Liste herunterzurattern - bei welcher das ‚pro - Stadt' eindrucksvoll überwog - so konnte ich doch nicht von Cam verlangen, sich zum Feind zu legen. Und sei es auch nur für vier Monate.
Ganz egal wie verlockend der Gedanke war, die kalten Winternächte an Sebastian gekuschelt unter einer warmen Decke auf einer dicken Matratze zu verbringen... Oder vielleicht sogar mit Henry... oder dem niedlichen Türken Can.
Meine Libido flammte auf, ging eine Koalition mit der leisen Stimme meiner Vernunft ein und haute mir ein hocherotisches Bild nach dem nächsten um die Ohren...
So ein mistiger Doppelmist aber auch! Verfluchte inneren Verräter!

„Sophie!"
Ich presste die Lippen fest zusammen und weigerte mich den jungen Arzt anzusehen.
„SCHEIẞE, MÄDCHEN... DAS IST KEIN SPIEL! ES GEHT HIER UM DEIN LEBEN! UND UM DAS DEINER FREUNDIN..."
„Luke..."
Mit einem Wutschrei warf der angesprochene einen Stuhl durch den Raum, als er seine Schwester ansah.
„Was?!" zischte er.
Linda legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich um.
„Geh mal bitte kurz raus um dich abzureagieren... Sophie hat gerade dicht gemacht, da kannst du sie anschreien, so viel du willst. Das bringt gar nichts. Lass mich es mal versuchen..."
Mit einem letzten finsteren Blick in meine Richtung verließ Luke das Zimmer und Linda seufzte leise auf.
„Ich entschuldige mich für meinen Bruder... wenn er jemanden ins Herz geschlossen hat, fällt es ihm manchmal schwer, das rechte Maß zu finden. Luke mag dich und das nicht nur, weil du mir den Allerwertesten gerettet hast. Du bist ihm sehr ähnlich, weißt du... mutig, dickköpfig, loyal... und ziemlich niedlich... eine Eigenschaft, die jetzt nicht auf Luke zutrifft, aber in allen anderen Bewohnern hier irgendwie einen Beschützerinstinkt auslöst. Wir wollen doch nur, dass weder dir noch Cami was passiert. Dazu bedeutest du uns einfach viel zu viel."

Mir stiegen Tränen in die Augen...
Wäre es denn wirklich so verkehrt, wenn ich einmal versuche, wie sich das Laufen auf dem nicht so steinigen Weg anfühlt?
‚NEIN!' brüllte mein inneres Verräterduo aus voller Kehle und triggerten damit natürlich meinen Sturkopf...
Gott, manchmal hasste ich mich echt selbst!
„Ich kann nicht bleiben, Linda. Nicht nachdem was in dem Lager passiert ist...das kann ich mir nicht zumuten und das kann ich Cam nicht zumuten!"
Meine Stimme der Vernunft und die stocksaure Libido plumpsten tief in meinem Innern frustriert zu Boden und gaben auf.
Linda setzte sich neben mich und nahm meine Hand. „Willst du es mir erzählen?" fragte sie leise und ihr warmer Blick zusammen mit der tröstlichen Geste zerschmetterten meine Dämme wie ein durchrauschender Tsunami.
Ich brach in Tränen aus und schluchzte mir die Seele aus dem Leib.
Die junge Frau schlang die Arme um mich und wiegte mich hin und her, während sie leise die Melodie eines Schlafliedes summte.
Nachdem ich mich schließlich ausgeheult hatte, begann ich mit rauher Stimme mir alles von der Seele zu reden... alles, was mir der ziemlich tote Dr. Lector und Schleimbeutel Nummer eins, der gute Pete angetan hatten.
Als ich fertig war herrschte Stille.. etwas Nasses tropfte mir auf die Schulter und ich sah, dass Linda weinte. Sie versuchte es krampfhaft zu unterdrücken und auf einmal kam ich mir wie das letzte Miststück vor.
Lukes Schwester hatte ihr eigenes Trauma zu bewältigen und da kam ich daher und lud meinen seelischen Müll auch noch bei ihr ab!
Der Verräterduo, bestehend aus meiner Libido und der Stimme der Vernunft schwiegen einhellig, ebenfalls erschüttert von meiner Gedankenlosigkeit...
„Linda... Gott, es tut mir leid! Bitte... vergiss, was du gerade gehört hast! Mir gehts gut. Ich meine, ich schaff das schon... du musst dich jetzt auf dich konzentrieren. Mach dir bitte keine Sorgen um Cami und mich... wir überleben seit Jahren draußen, dass kriegen wir auch noch einen weiteren Winter hin!"
Auf einmal wurden wir beide in eine warme Umarmung gezogen und so saßen Luke, Linda und ich da... die Zeit verging... wir schwiegen und verarbeiteten, was geschehen und gesagt worden war.
Schließlich räusperte der Arzt sich leise und küsste mich sanft auf die Schläfe.
Dann rückte er ein wenig ab und fuhr mir durch mein strubbeliges Haar.
In seinen Augen schimmerten Tränen, doch seine Stimme klang fest und sicher, als er sagte: „Ich versteh deinen Standpunkt, Mäuschen. Trotzdem kann ich einfach nicht akzeptieren, dass du und deine Freundin in der kältesten Jahreszeit ganz auf euch allein gestellt seid, mit so wenig Vorbereitungszeit. Können wir uns vielleicht auf einen Kompromiss einigen? Wir versorgen euch mit allem Wichtigen und Lebensnotwendigen und ihr bleibt dafür in der Nähe! In einem Radius von fünfzig Kilometern.."
Das nannte der gute Mann „Nähe"?
Aber warum diese bestimmte Entfernung?
„Warum..."
„... die fünfzig Kilometer? Das ist die Reichweite des Funkgerätes, welches du ebenfalls mitnehmen wirst. Wenn ihr in Schwierigkeiten geratet... Rate mal, was du dann machen wirst, junge Dame?"
Ok... das war in der Tat ein Kompromiss, mit dem ich leben konnte!
Jetzt musste ich nur noch herausfinden, was wir mit der Verräterprinzessin machen sollten. Allmählich erschien es mir doch als zu arbeitsaufwendig, das Blag vor einem anderen Lager zu deponieren... vielleicht war der ausversehende Verlust Anastasias in einer tiefen Felsspalte doch die bessere Lösung.

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