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Ich sitze einfach so da, bin noch nicht einmal ansatzweise bereit für den heutigen Tag und starre mein Spiegelbild angewidert an.

Wie kann es sein, dass in den letzten Wochen so viel passiert ist, ich immer noch so behandelt werde, als wäre ich der Feind und ich trotzdem noch dazu verpflichtet bin, zu diesem beschissenen Geburtstag zu gehen?

Diese Veranstaltung ist doch sowieso nur dafür da, um neue Kontakte zu knüpfen und die verdammte Branche noch weiter für sich zu gewinnen.

Mein Vater ist bereits der meist gefürchtete Mafiosi überhaupt, also wozu braucht er noch mehr Leute, die ihn respektieren, fürchten und schätzen?

Außerdem kann ich mich inzwischen auf nichts anderes mehr konzentrieren, als auf die Worte von Nathaniel.

Inzwischen ist es mir bereits so tief unter die Haut gegangen, dass ich es letzte Nacht gewagt habe, in das Büro meines Vaters zu schleichen und nach irgendwelchen Hinweisen zu suchen, die ich nicht gefunden habe.

Was könnte da sein, was ich nicht bereits über meine verkommene Familie weiß?

Als meine Tür sich plötzlich öffnet, sehe ich nach rechts und betrachte meine Mutter, wie sie mit einem Kleid über den Armen zu meinem Bett geht.

"Das wirst du heute Abend tragen. Du wirkst nicht wirklich anziehend, wenn du mit dieser Haut durch die Gegend läufst", sagt sie, ohne mir auch nur für einen Moment ins Gesicht zu blicken.

"Wer behauptet das? Obendrein ist es mir relativ egal, wie ich auf irgendjemanden wirke. Weiß ist nicht meine Farbe, Mutter", sage ich und drehe mich wieder zu meinem Spiegel.

Ich betrachte sie in der Spiegelung und beobachte sie dabei, wie sie das weiße Kleid glatt streicht.

Es zeigt, für meinen Geschmack, viel zu wenig Haut.

Natürlich ist es nicht so wirklich mein Ding, mich spärlich zu kleiden, doch so sehr bedecken, wie dieses Kleid es tun würde, will ich mich nicht.

Vor allem nicht, wenn ich nichts zu verstecken habe.

Die Narben sind wohl oder übel ein Teil von mir.

Und die größten stammen von den Befehlen meines Vaters ab.

Also werde ich den Teufel tun und diese Narben bei seiner Veranstaltung bedecken, nur weil meine Eltern es so wollen.

"Weiß ist der Dresscode, also wirst du dieses Kleid tragen, Amara. Keine Widerrede. Und zeige dich heute ausnahmsweise von deiner besten Seite. Dein Vater will dir einige Leute vorstellen."
Sofort hebe ich eine Braue.

"Will er sie mir vorstellen, oder will er mich den Leuten vorstellen?", frage ich und sehe im Spiegel direkt in ihr Gesicht.

Tatsächlich betrachtet sie mich gerade das erste Mal seit mehreren Tagen für mehr als nur einen flüchtigen Moment.

In meiner Kindheit habe ich mich immer gefragt, ob meine Mutter mich nicht leiden kann, weil ich vielleicht gar nicht ihr Kind bin.

Doch je älter ich wurde, desto weniger Sinn ergab dieser Gedanke.

Immerhin bin ich ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.

Sie kommt langsam auf mich zu, bleibt hinter mir stehen und blickt mich für einen Moment einfach nur an, ehe sie das Haarband sanft aus meinem Haar zieht.

"Trag dein Haar offen. Das passt besser zu dir. Außerdem bedeckt es deinen Rücken besser", sagt sie, ehe sie einen flüchtigen Blick auf meinen Rücken wirft.

Ihre Augen wandern nur für den Bruchteil einer Sekunde über die Narben, mit denen Avion mich gebrandmarkt hat und doch ist es plötzlich so offensichtlich.

Sie weiß es.

Sie wusste es die gesamte Zeit über und hat nichts dagegen unternommen.

Mir entkommt ein sarkastisches Lachen, als ich mich nach vorne lehne und den Fuß von der Fläche des Stuhles nehme, auf welchem ich sitze.

"Wenn du mich entschuldigen würdest", sage ich und stehe auf, ehe ich auf mein anliegendes Badezimmer zugehe.

"Ich muss langsam die Maske der falschen Amara aufsetzen. Das könnte etwas dauern, also wäre ich dir sehr dankbar, wenn du mich nicht weiter aufhalten würdest", lächle ich ihr direkt ins Gesicht.

Dabei ist mir mehr als nur egal, wie respektlos ich gerade zu ihr bin.

Nach all den Jahren, hat diese Frau keinen Funken Wertschätzung von mir verdient.

Geschweige denn meinen Respekt.

Sie sieht zu ihren Händen, in denen sie das Haarband hält und legt es auf meinen Schreibtisch, ehe sie sich zur Tür bewegt.

"Ach, Mutter", sage ich, als ich mich noch ein letztes Mal zu ihr drehe.

Sie tut dasselbe und sieht mich mit einer neutralen Miene an.

Nur eine winzige Reaktion.

Gib mir eine einzige kleine Reaktion und ich kann mir sicher sein.

"Denkst du nicht, dass Avion perfekte Arbeit geleistet hat?", frage ich und lächle nur ganz schlicht in ihre Richtung.

Sie presst ihre Lippen aufeinander und bietet mir damit diese eine kleine Reaktion, die ich benötigt habe, um mir sicher zu sein.

Als sie nichts sagt, nicke ich und betrete ohne ein weiteres Wort mein Badezimmer, nur um dann die Tür hinter mir zu versperren.

Es sollte mich treffen, mich traurig stimmen, doch das einzige, was ich inzwischen nur noch verspüre, ist der Hass und die Abneigung meiner Familie gegenüber.

Eines steht jedoch zu hundert Prozent fest.

Ich werde mich nicht klein kriegen lassen.

Nicht von diesen Menschen.

Passionate VengeanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt