"Wieso steigst du nicht aus?", fragt Léon mich, nachdem wir eine halbe Stunde lang komplett still nebeneinander gesessen haben.
Und inzwischen sitzen wir schon seit zehn Minuten auf dem Parkplatz vor dem Haus und starren auf das Gebäude, indem wir eigentlich zu Hause sind.
Doch es fühlt sich falsch an, mit den neuen Ereignissen in dieses Haus zu gehen.
"Wegen zweierlei Gründe", gebe ich mit kratziger Stimme zu, die von all dem weinen einfach vollkommen falsch klingt.
Auf der Fahrt hierher musste Léon zweimal am Straßenrand haltmachen, weil ich mich übergeben musste und trotzdem ist er mit mir ausgestiegen und hat mein Haar bei Seite gehalten.
"Domenico und Nathaniel", stellt er fest, sodass ich ihm nur mit einem stummen nicken antworten kann.
Die Möglichkeit zu akzeptieren, dass Domenico nach all den Jahren vielleicht wirklich noch am Leben sein könnte, wirkt fast schon unmöglich zu verarbeiten.
Wenn er wirklich noch am Leben sein sollte, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, was er in der Zwischenzeit alles ertragen musste.
Wo ist er?
Wie geht es ihm?
Warum hat mein Vater ihn überhaupt entführt?
Nathaniels perfekte Augen tauchen mir plötzlich vor dem inneren Auge auf und betrachten mich voller Fürsorge, voller Wärme und voller Liebe.
Nach all den Wochen kann ich definitiv nicht mehr infrage stellen, wie sehr er mich eigentlich liebt.
Und doch frage ich mich, warum er mir nie erzählt hat, dass Domenico vielleicht noch am Leben sein könnte.
Wussten es vielleicht alle bis auf mich?
"Wusstest du davon?", höre ich mich schließlich fragen, ohne vorher überhaupt richtig darüber nachgedacht zu haben.
Léon lacht neben mir beinahe spöttisch auf.
"Wenn ich gewusst hätte, dass Nico vermutlich noch am Leben wäre, wäre es mir viel besser ergangen, Amara. Glaubst du wirklich, ich würde den Mann im Stich lassen, der mir vor so vielen Jahren den verfickten Arsch gerettet hat?", fragt er mich, während wir beide auf das Haus vor uns starren.
Zu fünft sind wir vor wenigen Stunden hier losgefahren und nach so kurzer Zeit tauchen wir plötzlich nur zu zweit wieder auf.
Wir haben so sehr versagt.
"Ich liebe den Großen, ohne Frage. Aber Nico und ich sind mehr als nur beste Freunde gewesen. Wir waren sowas wie Brüder. Nein, mehr sogar. Er war der einzige, der von meiner Vergangenheit wusste. Jedenfalls, bis er es Briana gesteckt hat, um meine gestörte Mordlust zu erklären, sodass sie mich nicht mehr so ängstlich angesehen hat", erklärt er, weshalb ich meinen Blick schließlich vom Haus löse und stattdessen zu ihm sehe.
So viel hat er mir noch nie von sich erzählt.
"Wieso weiß Nate nichts davon?", frage ich ihn leise, fast schon flüsternd.
Sein Kopf wandert verdammt langsam in meine Richtung, sodass er mich ziemlich träge und verdammt müde betrachtet.
Er hebt beide Brauen an.
"Wenn Nathaniel von meiner Vergangenheit und von meinem Hass Frauen gegenüber gewusst hätte, hätte er dich niemals zu uns gebracht", erklärt er, wobei er mir damit eigentlich etwas anderes sagen will.
Er mein, dass Nathaniel ihn anders behandelt hätte und alles anders angegangen wäre, um die Möglichkeit zu umgehen, dass Léon sich schlecht fühlen könnte.
Also nicke ich und sehe wieder in die Richtung des Hauses.
Als jedoch ein Handy beginnt zu vibrieren, ziehe ich fast schon panisch das Handy meines Bruders aus meiner Jackentasche und öffne es schnell, indem ich seinen alten und verdammt unsicheren Pin Code eingebe.
Doch es ist nicht sein Handy gewesen, also lasse ich das Display sofort wieder dunkel werden und greife stattdessen in meine Hosentasche, wobei ich mich auf dem Beifahrersitz ziemlich verkrampfen muss.
Ein Stein fällt mir vom Herzen, als ich die Nachricht von Rico lese.
"Tesoro geht es gut. Rafael hat mir eben geschrieben und mich wissen lassen, dass er Romeo sicher verwahrt hat", lese ich die Nachricht vor und atme erleichtert, jedoch zittrig aus.
Wenn ich Avion und Nathaniel nicht mit den dreien rausgeschickt hätte, wäre das alles nicht passiert und Nate wäre jetzt noch bei uns.
Bei mir.
Ich könnte ihm sagen, wie viel er mir bedeutet und wie sehr ich mich inzwischen in ihn verliebt habe.
"Das ist gut. Dein Bruder soll mir bald sagen, wo das ist, damit ich mich darum kümmern kann. Ich bringe den Großen zu uns zurück, Amara. Versprochen", versichert Léon mir, ehe er mir die Hand auf das Knie legt und beruhigend mit dem Daumen auf und ab fährt.
Tränen bilden sich wieder in meinen Augen, doch dieses Mal dränge ich sie zurück.
Ich muss stark bleiben, bis er wieder bei uns ist.
Wir bleiben noch eine Weile hier im Wagen sitzen und scheuen uns davor, zu Briana zu gehen und ihr alles zu erzählen.
Doch dann gehen wir zu ihr, finden sie im Wohnzimmer und werden sofort misstrauisch betrachtet, als sie sieht, dass wir nur zu zweit sind.
Also setzen wir uns zu ihr, erzählen ihr alles bis ins kleinste Detail und lassen nur eine winzige Information aus.
Wir sehen einander an, scheinen stumm miteinander einzustimmen, dass es falsch wäre, ihr Hoffnungen zu machen, wenn wir uns nicht einmal zu hundert Prozent sicher sind und sagen ihr nichts von der Möglichkeit, dass Domenico vielleicht noch am Leben sein könnte.
Und dass ich ihn vielleicht doch nicht umgebracht habe.
Erst, nachdem wir alles erzählt und ihr noch etwas stumme Gesellschaft geleistet haben, bin ich aufgestanden und den Flur entlang geschlendert.
Léon ist mir stumm gefolgt, hat sein Versprechen wahr gemacht, mir nicht von der Seite zu weichen, ist dann jedoch draußen geblieben als ich in das Zimmer unserer Tochter geschlichen bin.
Ich habe die Tür einen winzigen Spalt offen gelassen, bin dann zu ihr geschlichen und habe mich zu ihr ans Kinderbettchen gesetzt, wo ich eine Hand zwischen die Gitterstäbe geschoben und ihre kleine winzige Hand gehalten habe.
Und das habe ich für den Rest der Nacht getan.
Ich habe einfach neben unserer Tochter gesessen, habe ihre Hand gehalten und Giovannis Handy in meiner Hand gehalten, während ich darauf gewartet habe, dass meine Brüder sich bei mir gemeldet haben.
Und dann, ganz früh am nächsten Morgen, haben sie sich tatsächlich bei mir gemeldet.
Das Handy hat in meiner Hand vibriert, als Polly sich gerade aufgerichtet und sich über die müden Augen gerieben hat.
Für einen kurzen Moment habe ich meine Augen von meiner Tochter gelöst und stattdessen auf das Display gestarrt.
Giovanni war derjenige, der von Emanuels Handy aus eine Nachricht an mich geschickt hat.
Emanuel: Giovanni hier. Wir haben alles geregelt. Rafael wird noch bleiben und hat alles geklärt, um das möglich zu machen. Wir kommen zu dir, wann immer du bereit bist, Stellina. Wir finden deinen Mann.
Und er hat recht, denn ich werde nicht aufgeben.
Nicht jetzt, wo ich schon einen ganzen Schritt weiter gekommen bin, indem ich Emilio Salvatore endlich aus dem Weg geräumt habe.
Wir finden meinen Mann.
Ich hole mir Nathaniel zurück.
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Passionate Vengeance
Genç Kız EdebiyatıAmara ist der einzige weibliche Nachwuchs einer sehr bedrohlichen und gefürchteten Mafiafamilie. Ständig wird sie von ihrem Vater unter Druck gesetzt und zu Dingen gezwungen, die sie niemals tun würde. Als ihr Vater dann jedoch etwas Unglaubliches i...